Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Porzellan. Die langen schwarzen Wimpern geschlossen. Schwarze Locken umkränzten ihr Haupt und ihre Schultern. Sie sah aus, als würde sie nur schlafen, eine getrocknete Rose in den gefalteten Händen. Ein einfaches weißes Kleid umfloss ihren Körper bis zu den nackten Füßen. Nur der dunkle Fleck auf ihrer Brust störte das schöne Bild.
Der Vampirjäger hatte ihr das Herz durchstoßen. Vermutlich mit einer silbernen Klinge, sonst hätte sich die Wunde wieder geschlossen. Doch der Jäger hatte ihr nicht den Kopf vom Hals getrennt. War sie deshalb nicht zu Staub zerfallen? Oder lag es daran, dass sie diesen Kristall um den Hals trug, dessen Inneres in dunklem Rot zu pulsieren schien?
Alisa ließ sich auf die Knie sinken und streckte die Hand aus. Doch ehe ihre Finger die Tote berührten, hob sie den Blick zu Ivy.
» Darf ich?«
Ivy nickte und ließ sich neben ihr nieder. » Nehmt Abschied, wenn euch danach ist. Ich weiß nicht, ob ihr Körper die heutige Nacht überstehen wird.«
» Warum hat van Helsing ihn überhaupt unversehrt gelassen?«, wunderte sich Alisa und streichelte die kalte Haut ihrer Wangen mit den Fingerspitzen.
Ivy hob die Schultern. » Vielleicht konnte er nicht anders. Vielleicht war das ein Teil ihres Zaubers, dem die Männer verfielen?«
» Eigentlich müsste sie längst verwest sein oder zu einer Mumie vertrocknet«, meinte Leo, der hinter Alisa trat. » Ist das ein Zeichen der alten Kirchenkräfte der Templerkirche? Oder der heidnische Zauber, den sie um den Hals trägt?«
» Wer kann das schon so genau sagen«, meinte Ivy, beugte sich herab, zog vorsichtig die Kette über ihren Kopf und verbarg den Kristall unter ihrem Gewand.
Ivy ließ den Erben noch einige Momente mit der Toten, dann klappte sie den Deckel wieder zu. Sie schoben auch die Grabplatte wieder an ihren Platz. Den Altar richteten sie zwei Schritte hinter dem Grab aus.
Ivy überprüfte noch einmal den Erdpfad, der in einer geraden Linie von der Tür bis zur Grabplatte führte, dann wandte sie sich den Erben zu.
» Geht nun alle an eure Plätze und tut nur das, was wir besprochen haben. Dann haben wir gute Chancen, dass wir diese Nacht heil überstehen und die Bedrohung für die Clans Vergangenheit ist. Und vergesst nicht: Ganz gleich, was passiert, ihr müsst den Hof verlassen und euch in eines der Gebäude zurückziehen, ehe die Sonne aufgeht.«
Nacheinander verließen die jungen Vampire die Kirche. Alisa umarmte Ivy, ehe sie als Letzte durch das Portal schritt und die schwere Holztür hinter sich schloss.
*
Es klopfte an der Tür, dann steckte Abraham van Helsing den Kopf herein. » Bram, sind Sie so weit?«
Bram Stoker knöpfte mit zitternden Fingern seine Jacke zu und nickte. Er versuchte sich an einer kühlen Miene, doch van Helsing blieb seine Nervosität nicht verborgen. Er trat auf ihn zu und legte seine Hand auf die noch immer zuckenden Finger.
» Nur ruhig, mein Freund. Haben wir nicht auch unser Abenteuer in den Karpaten unversehrt überstanden? Kann es denn noch gefährlicher werden?«
Wie beneidenswert abgeklärt der erfahrene Vampirjäger doch war.
» Sie haben recht, doch immerhin ist es derselbe gefährliche Gegner. Und Sie wissen so gut wie ich, dass er uns schon im vergangenen Jahr hätte töten können– oder noch Schlimmeres mit uns anstellen.«
Van Helsing nickte bedächtig. » Das ist wahr. Ich wollte auch nicht die Gefahr verharmlosen oder uns zu Leichtsinn verführen. Ich möchte nur, dass Sie sich auf Ihren Mut statt auf Ihre Angst konzentrieren. Begegnen Sie dem, was uns heute Nacht erwarten mag, mit klarem Blick und wachem Verstand. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie beschäftigt uns und lenkt uns mit allerlei Szenarien ab, die vielleicht passieren könnten. Versuchen Sie sich davon zu lösen!«
Bram versuchte sich an einem Lächeln. » Ich weiß, verehrter Freund. Leider gelingt es mir nicht immer, dagegen anzugehen. Dort oben schlafen meine Frau und mein Sohn nichts ahnend und ich kann nicht sagen, ob sie, wenn sie erwachen, noch einen Ehemann und Vater haben.«
» Bram, Sie müssen mich nicht begleiten! Ich weiß, dass Ivy auch Ihnen einen Brief geschrieben hat, doch es steht Ihnen frei, Ihre Aufforderung abzulehnen.«
» Aber wenn sie uns für ihren großen Plan braucht? Was, wenn er misslingt, weil ein Rädchen im Getriebe seinen Dienst verweigert? Was wäre in Poienari geschehen, wenn wir den Erben nicht geholfen hätten?«
Van Helsing hob die Schultern. » Wer weiß.
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