Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Garten hinter dem Haus erkennen konnte: Den Birnbaum, der seine entlaubten Blätter frierend in den Wind streckte, und die kahlen Beerenbüsche hinten am Zaun.
Bram legte ein wenig Kohle nach und drückte die gerollte Filzdecke auf dem Fensterbrett sorgfältig gegen den kleinen Spalt zwischen dem Fensterflügel und dem Rahmen, durch den der eisige Wind eindrang. In diesen Nächten war Bram ganz froh, dass der Raum im oberen Stock, welcher ihm als Bibliothek und Arbeitszimmer diente, so klein war. So konnte das Feuer im Kamin ihn doch rasch erwärmen.
Bram setzte sich an seinen Sekretär und zog ein Stück Papier aus der Schublade. Versonnen starrte er auf das weiße Blatt.
Von unten drang ein Klappern aus dem Salon. Vielleicht hatte Florence etwas fallen lassen? Irving Noel schlief bereits. Er wuchs zu einem wissbegierigen Jungen heran, der auf seinen kurzen, strammen Beinchen die Welt eroberte und seine Mutter und das Hausmädchen mit seinem Tatendrang den ganzen Tag in Atem hielt. Bald schon, am letzten Tag des Jahres, würde er seinen zweiten Geburtstag feiern.
Er sollte sich mehr um seinen Sohn kümmern und ihn nicht nur den Frauen überlassen, dachte Bram mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Auch Florence hatte er in den vergangenen Wochen sträflich vernachlässigt. Das schlechte Gewissen vertiefte sich. Es war so viel geschehen, was ihn beschäftigte und ihm kaum Raum ließ, seine Arbeit für Irving ordentlich zu erledigen.
Wieder drangen Geräusche zu ihm hinauf, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Morgen war Weihnachten.
Bram hatte am Nachmittag auf Florence’ Wunsch eine kleine Tanne besorgt und sie im Salon aufgestellt. Vermutlich war Florence gerade dabei, das Bäumchen mit Äpfeln und allerlei glitzerndem Tand zu behängen. Ein seltsamer Brauch, den Prinz Albert vom Kontinent mitgebracht hatte. Königin Victoria lebte ihrem Volk die traute Familienidylle vor, die ihren Höhepunkt an Weihnachten erlebte, wenn sich die königliche Familie um ihren prächtigen Christbaum versammelte. Mit Begeisterung nahmen die Engländer diesen neuen Brauch auf. Natürlich nur die, die über einen großzügigen Drawing Room verfügten und sich ein behaglich warmes Weihnachtsfest mit einem fetten Truthahn und dem traditionellen Christmas Pudding, in dem ein silberner Sixpence versteckt war, leisten konnten.
Bram war nicht in Weihnachtsstimmung. Er wollte keine traute Behaglichkeit vor dem warmen Ofen, keine Mistelzweige und nicht den Duft von Bratäpfeln und Zimt. Sein Geist flog über das Meer zu den windgepeitschten Mooren im Westen Irlands, wo er einst eine kleine Gestalt auf einem Friedhof entdeckt hatte, in Mondlicht gebadet. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie sehen: Ihr langes, silbernes Haar, die feinen Gesichtszüge, die porzellanweiße Haut, die türkisfarbenen Augen, die so klug und erfahren und doch auch so traurig dreinblickten und bis in die Tiefen der Seele lesen konnten. Ihr silbernes Gewand floss an ihrem zierlichen Körper herab, der nicht Mädchen war und nicht Frau. Sie war ein überirdisches Wesen, das man nicht einordnen konnte. Ivy, die Vampirin und Zauberin einer längst vergessenen Welt. Unsterblich! Das hatte er zumindest geglaubt. So mächtig, dass ihr nichts und niemand etwas anhaben konnte. Das hatte er sich eingeredet. Bis zum Schluss. Bis er die schmerzhafte Wahrheit nicht mehr verleugnen konnte.
Ivy war tot, vernichtet, zu Staub zerfallen und verweht. Die Welt hatte sie verloren und war ein Stück ärmer geworden.
Bram blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen stiegen. Er griff nach seinem Federhalter und tauchte die Feder in die Tinte. Lange schob er es nun schon vor sich her. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sein Buch über die Wesen der Nacht zu schreiben. Und über die Vampirin aus Irland, die ihm schon mit ihrem ersten Blick die Seele geraubt hatte.
Seine Hand verharrte eine Weile über dem leeren Blatt, dann schrieb er in einem Zug:
Ivy-Máire de Lycana, Königin des Mondlichts
Er hielt inne, zerknüllte das Papier und warf es in den Kohleneimer. Dann zog er ein neues Blatt hervor.
Ivy-Máire de Lycana, schrieb er noch einmal und setzte dann hinzu: Jägerin des Blutes und Engel der Finsternis
Doch auch dieses Blatt folgte zerknüllt dem ersten. Noch einmal schrieb er ihren Namen. Und wieder empfand er den tiefen Schmerz ihres Verlustes. Allein zu wissen, dass sie irgendwo dort draußen war, hatte ihm genügt. Und die Hoffnung, ihr unerwartet
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