Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
hinterfragen. Du nimmst es einfach hin und schließt dich mit deinem Schmerz ein. Du hast bei den Dracas gelernt, vor allen deine wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen– auch wenn es dir bei mir nicht gelingt–, aber es ist nicht immer von Vorteil, diese Fähigkeit so perfekt einzusetzen!«
Alisa öffnete und schloss ein paar Mal tonlos den Mund. Darauf wusste sie nichts zu sagen, und als ihr ein paar Fragen einfielen, hatte sich Ivy bereits abgewandt. Sie schritt an den Grabplatten vorbei und hielt dann kurz inne, um eine von ihnen zu betrachten. Alisa ließ sich von dem Thema ablenken, über das nachzudenken sie vielleicht zu sehr schmerzte, und sagte stattdessen:
» Was für seltsame Skulpturen. Ich habe noch nie Ritter in dieser Haltung mit gekreuzten Beinen gesehen.«
Ivy warf ihr einen Blick zu, den Alisa nicht zu deuten wusste. » Es ist nur ein Symbol dafür, dass sie am Kreuzzug teilgenommen haben. Sie waren Teil des großen Heeres, das nach Palästina zog, um die heiligen Stätten mit Feuer und Blut von den ungläubigen Mauren zu säubern. Viele der Templer begleiteten diese wogende Masse aus Bauern, Bettlern und Abenteurern, ja selbst Frauen und Kindern, die alles andere waren als ein Heer. Vielleicht gehörten die Templer zu den wenigen, die tatsächlich zu kämpfen verstanden und denen es zu verdanken ist, dass überhaupt ein Teil der Kreuzfahrer das Heilige Land erreichte. Dennoch verlor bestimmt die Hälfte bereits unterwegs bei Überfällen oder durch Krankheit und Schwäche ihr Leben. Der Rest ließ sich dann im Heiligen Land bereitwillig von den Sarazenen töten.« Ivy schüttelte den Kopf. » Wie viel sinnlose Gewalt und sinnloses Sterben. Immerhin wurden überall die Tapferkeit und der heldenhafte Kampf der Templer gerühmt. Egal, was für Verbrechen und absurde Sünden man ihnen später vorwarf, um den Orden zu zerstören, der dem Papst und manchem Herrscher zu eigenständig und zu mächtig geworden war– ihren Mut und ihren virtuosen Umgang mit dem Schwert hat nie einer angezweifelt.«
Alisa sah auf den Earl of Pembroke herab und versuchte sich den seltsamen Kriegszug vorzustellen, von dem Ivy gesprochen hatte. Und all das im Zeichen des Kreuzes und für den einen Gott, an den sie glaubten! Wobei die Mauren natürlich ebenfalls an ihren Gott glaubten und dass sie im Recht seien.
Alisa schüttelte den Kopf. Nein, wenn es um ihren Glauben ging, konnte sie die Menschen nicht verstehen. Schon alleine die Anzahl der in ihrer Pracht wetteifernden Kirchen, die überall in den Himmel ragten und dann das Volk, das hungerte und fror, während ihnen die Priester von der Kanzel herab verkündeten, im Himmelreich würden sie für ihr Leiden belohnt. Und das womöglich aus dem Mund eines fetten Bischofs, der in Samt und Seide gekleidet wie ein Fürst in Reichtum schwelgte und sich jeden Tag mit Köstlichkeiten vollstopfte und teuren Wein in sich hineingoss. Die Vamalia konnte es nicht fassen, dass das Volk den Schwindel nicht durchschaute und ihm ein Ende bereitete.
Ivy hob die Schultern. Offensichtlich hatte sie Alisas Gedanken verfolgt. » Was erwartest du von Menschen?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich verächtlich.
Überrascht sah Alisa auf und erschrak vor Ivys abweisendem Ausdruck.
» Wollen wir uns noch ein wenig umsehen?«, schlug Alisa vor, doch Ivy lehnte ab.
» Ich muss gehen.«
» Wohin? Was hast du vor?«
Für einen Moment dachte Alisa, sie würde ihr nicht antworten, doch an der Tür drehte Ivy sich noch einmal um. Ihr Blick wirkte seltsam verschleiert, so als wäre ihr nicht klar, dass sie mit Alisa sprach.
» Ich muss noch einmal in die Bibliothek des Inner Temple. Mir ist eben etwas klar geworden. Ich weiß nun zumindest, wonach ich suche.«
Und noch ehe Alisa eine Erklärung für die rätselhaften Worte verlangen konnte, war Ivy verschwunden. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die nun nicht mehr verschlossene Tür aufzuziehen. Sie schien einfach durch sie hindurchzutreten. Nur ein Hauch von Nebel blieb zurück und löste sich dann auf.
Alisa schwankte zwischen Staunen und Neid. Das hatte sie bei Ivy noch nie gesehen. War das ein Talent, das sie ihnen bislang verschwiegen hatte, oder gehörte es zu den Fähigkeiten, die sie in diesem Akademiejahr von den Vyrad lernen konnten? Vielleicht war es das, was Leo und die anderen im Keller so eifrig übten? Was für eine wundervolle Sache!
Hatte Ivy es etwa in nur einer Nacht geschafft, das zu erlernen? Wieder dieses
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