Die Erben der Schöpfung
Während ihrer Jugend in Indianapolis, wo sie in einer Familie von bescheidenen Mitteln aufwuchs, hatte sie sich nach Reichtum gesehnt. Als ihre Heirat mit einem jungen Wirtschaftsstudenten ihr genau das beschert hatte, stellte sie fest, dass sie eigentlich gar keinen Reichtum wollte, sondern Macht. Ihr Beruf war ein Sprungbrett, doch sie war zu schüchtern und zu sicherheitsbewusst, um ihre Ziele zu erreichen. Jetzt war ihre Chance gekommen, und sie würde ihr Leben ändern. Es war höchste Zeit, alles auf eine Karte zu setzen, bis ihr Mann sie zu Wohltätigkeitsbällen begleiten würde statt wie bisher sie ihn.
Erneut ging sie in Gedanken alle Einzelheiten ihrer Geschichte durch. Die Thematik eignete sich als Beitrag fürs Fernsehen oder vielleicht sogar als eigenständiger Dokumentarfilm. Sie würde schildern, wie menschlicher Ehrgeiz in blinden Wahn umschlug. Nachdem die öffentliche Meinung jahrelang über die moralischen Implikationen des Klonens von Menschen gebrütet hatte, würde sie nun klären, wo die Grenze lag.
Sie würde die Geschichte so erzählen, dass die Öffentlichkeit nicht mehr anders konnte, als Stellung zu beziehen und zu entscheiden, was erlaubt war und was nicht. Sie würde…
In diesem Moment rutschte sie auf einem wackeligen Stück Untergrund aus.
Nein, es war nicht wackelig, sondern es bewegte sich.
Sie verlor den Halt, fiel hin und landete auf ihrer linken Seite. Noch ehe ihr Verstand begriffen hatte, was los war, stach ihr das bewegliche Ding ins Auge. Eine wirbelnde, tanzende, Bewegung, die ihren Blick magisch anzog. Instinktiv streckte sie zur Abwehr die Arme nach vorn aus.
Während das graue, sich windende Gebilde vor ihr Gestalt annahm, streifte etwas Kaltes ihre Hand. Ohne nachzudenken griff sie danach und klammerte sich mit aller Kraft an den vermeintlichen Ast, in der Hoffnung, sich mit seiner Hilfe wieder aufrichten zu können. Sofort begann sich das Etwas heftig gegen ihren Griff zu wehren, und endlich sah sie auch, was es war, das sich nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt befand.
Während sie sich vergeblich aufzurichten suchte, erkannte sie, dass das sich windende Objekt in ihrer Hand mit dem aufgerissenen Maul einer Schlange mit lanzenförmigem Kopf verbunden war, deren Zunge ihrem Hals entgegenzüngelte. Kaum hatte sie ihre Lage erfasst, schallte schon ihr Schrei durch den Regenwald wie das Kreischen eines Brüllaffen.
Die Schlange maß gut zwei Meter, hatte etwa zehn Zentimeter Durchmesser und war stark. Ihr Schwanz wand sich in Susans Griff hin und her, während ihr Körper in die andere Richtung schwang, um die Bewegung zu kontrollieren. Mit der anderen Hand packte Susan den Hals der Schlange und begann mit der muskulösen, sich heftig wehrenden Viper zu kämpfen. Die Schlange war von oben bis unten grau und hatte ein schwarzes, rautenförmiges Muster auf ihrem Leib.
Und sie sah Susan direkt in die Augen.
Susan konnte den Blick nicht vom bedrohlichen Kopf des Tiers abwenden, während die Sekunden verstrichen. Diese schwarzen Augen!
Die Zeit dehnte sich endlos, während die Schlange sie anstarrte. Ihre Augen waren monolithische Abgründe ohne eine Spur von Emotion oder Angst. Susan hielt die Schlange fest, bis ihre Hände unter dem Druck zu zittern begannen. »Susan!«
Sie blickte auf und sah Ayala neben sich knien, die Machete in der Hand. Dann sah sie die Schlange. Etwa dreißig Zentimeter unter ihrem Griff war das Tier säuberlich in zwei Hälften geteilt worden, wobei aus der Hälfte in Susans Händen Verdauungsflüssigkeiten troffen. Sie ließ langsam locker, und das Winden hörte auf. Ihre angestauten Gefühle überfluteten sie schockartig, und sie schleuderte den Schlangenkopf sechs Meter weit gegen einen Baum und begann krampfhaft nach Luft zu schnappen.
»Tut das Ding weg von mir!«, kreischte Susan völlig außer sich vor Angst.
Carlos trat mit dem Stiefel gegen das untere Ende der Schlange, sodass sie mehrere Meter davonflog, bis sie schließlich zu zucken aufhörte und reglos liegen blieb.
Ayala erhob sich und hielt Susan eine Hand hin. »Ein guter Fang, junge Frau.« Susan nahm die angebotene Hand.
»Was ist denn passiert?«, fragte Susan verwirrt.
»Sie sind auf das arme Ding draufgetreten. Was hätte die Kreatur denn tun sollen?« Ayala gab sich ungerührt.
»Was war es eigentlich?«, wollte Susan wissen.
»Eine Grubenotter, genauer gesagt eine so genannte Terciopelo-Lanzenotter. Fiese kleine Biester. Sie kommen einem tagsüber
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