Die Erben der Schöpfung
Erstaunlichste, was ich je gesehen habe, und jetzt ist er weg. In den Dschungel geflohen. Letzte Nacht.« Sie hielt inne und holte Luft.
»Warum wollte er denn fliehen?«, fragte Paulo vorsichtig.
Jamie senkte den Blick. »Ich kann ihm wohl keinen Vorwurf machen, aber es hängt viel zu viel daran, um ihn einfach ziehen zu lassen. Außerdem ist er kaum darauf vorbereitet, allein im Dschungel zu überleben, nachdem er in Abhängigkeit von menschlichem Beistand groß geworden ist. Es ist im Interesse aller, ihn zurückzuholen.«
Paulo atmete tief durch und sah Jamie in die Augen. »Erzähl mir mehr von dem Schimpansen«, bat er mit leiser Stimme.
»Er ist unglaublich. Meiner Überzeugung nach ist er genauso intelligent wie ein Mensch, und doch anders. Er tut Dinge, die so verblüffend sind… Und trotzdem wirkt er manchmal regelrecht menschlich.«
Paulo dachte einen Augenblick nach. »Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, ob es richtig ist, den Schimpansen so zu studieren, wenn er ein ebensolches Bewusstsein hat wie du und ich?«
»Manchmal. Irgendwie kommt es mir aber eher so vor, als würden wir ihn unterrichten, ihm seine Fähigkeiten klarmachen. Ich glaube, er wäre gar nicht glücklich, wenn er nur mit den anderen Affen schaukeln würde. Er weiß, dass er nicht dazupasst.« Glaubte sie das wirklich?
Paulo ließ nicht locker. »Mit so etwas war die menschliche Gesellschaft noch nie konfrontiert. Meinst du, dass der Schimpanse Anspruch auf grundlegende Menschenrechte hat? Ich finde schon.«
Jamie wandte sich um und ging im Raum auf und ab. »Paulo, mein Leben lang habe ich versucht, große Fragen zu beantworten, Fragen, die die Welt in positivem Sinne verändern. Anscheinend sind alle anderen damit zufrieden, einfachere Fragen zu stellen, die keine Konsequenzen haben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, einer wirklich wichtigen Frage und sogar der Antwort darauf auf der Spur zu sein.« Sie wischte sich die Augen. »Ich brauche das. Ich brauche dich, Paulo.«
Paulo bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. Schließlich sah er auf. »Und wenn ich nicht will?«
»Dann muss ich die Expedition selbst anführen. Aber mir wäre wohler, wenn du dabei wärst.« Jamie merkte, wie verkrampft sie war, und überlegte, ob Paulo wegen der Verfolgungsjagd zögerte oder wegen ihr.
»Jamie, ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht.«
»Ich auch.«
»Ich spreche nur selten so offen. Hoffentlich habe ich dich nicht verschreckt.«
Jamie riss die Augen weiter auf. »Überhaupt nicht.«
»Aber du schienst es eilig zu haben wegzukommen.«
Jamie fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Ich war vielleicht ein bisschen überfordert. So viel Stoff zum Nachdenken… und so viele Gefühle«, fügte sie aufrichtig hinzu.
Paulo nickte. »Aber ich muss wissen, warum du das tust.«
Jamie antwortete mit Bedacht und sah Paulo dabei flehentlich an. »Ich muss herausfinden, wer er ist. Ich kann einfach nicht ignorieren, was ich gesehen habe, und ich brauche Antworten. Du bist der Einzige, dem ich vertraue und der mir helfen kann.«
Beide standen einen Moment lang schweigend da. »Ich helfe dir, Jamie«, sagte Paulo schließlich.
»Danke«, flüsterte sie.
20
Tauchmaske und Schnorchel sahen nur knapp über die Wasseroberfläche hervor, als Ayala Goren eine Flussbiegung hinter sich ließ und damit außer Sichtweite des Fischerboots gelangte. Mit ihrem muskulösen Körper schwamm sie mühelos und konnte sich auf das Terrain vor ihr und das Wasser um sie herum konzentrieren. Sie hatte sich oft genug im Amazonas aufgehalten, um zu wissen, dass sie im Wasser stets auf der Hut sein musste. Trotzdem war es prickelnd, in einem Fluss zu schwimmen, der so voller Leben und voller Gefahren steckte.
Ihr Leben am Amazonas hatte ursprünglich als Rückzug begonnen. Durch ihren Dienst als Eliteoffizierin einer israelischen Spezialeinheit schwer traumatisiert, war sie vor den Dämonen, die in Israel allgegenwärtig waren, nach Brasilien geflohen. Nach drei Jahren aktivem Dienst im Westjordanland hatte sie Gräuel erlebt, von deren Existenz in der modernen Kriegführung die meisten Soldaten nicht einmal etwas ahnten.
Die Albträume rührten nicht von ihren Einsätzen bei der exponierten Grenzpatrouille oder gelegentlichen Schusswechseln her, sondern begannen erst nach ihrem Aufenthalt im Hamas-Hotel, wie sie es nannte. Von palästinensischen Extremisten gefangen genommen, hatte sie zwei Wochen
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