Die Erben der Schwarzen Flagge
Elena. Wäre es nicht so, würde ich nicht derart offen mit Euch sprechen. Aber ich kann die Zweifel spüren, die an Euch nagen. Tief in Eurem Herzen seid Ihr auf der Suche nach der Wahrheit – und die Wahrheit ist das, was Euch Nick Flanagan erzählt hat. Er muss es wissen, Mylady. Nick war lange Jahre ein Gefangener Eures Vaters. Er hat mitbekommen, wie die Sklaven in den Lagern misshandelt wurden, und er hat die Kerker von Maracaibo gesehen. Der Mann, den er seinenVater nannte, fand ein grausames Ende, als der Conde ihn zu Tode foltern ließ.«
»Das ist nicht wahr«, behauptete Elena, aber es klang weniger überzeugt denn trotzig. In ihren Augen glänzte es feucht, und eine Träne rann über ihre Wange. »Warum sagt Ihr so abscheuliche Dinge? Genügt es nicht, dass Ihr mich entführt habt und ich mich in Eurer Gewalt befinde? Glaubt Ihr wirklich, ich würde die Worte eines ehrlosen Piraten jenen meines Vaters vorziehen, in dessen Adern das Blut glorreicher Ahnen fließt?«
»Und wenn es anders wäre?«, wandte O’Rorke ein.
»Was meint Ihr damit?«
»Was, wenn Nick Flanagan kein gemeiner Pirat wäre, wie Ihr vermutet, sondern in Wahrheit der Sohn eines britischen Lords, der im frühen Kindesalter verloren ging und viele Jahre als vermisst galt?«
»Ihr beliebt zu scherzen«, sagte Elena nur.
»Keineswegs, Mylady.«
»Dann lügt Ihr.«
»Auch das ist nicht der Fall.« Der Mönch griff unter seine Kutte und holte die kleine, in Leder gebundene Psalmensammlung hervor, die er stets bei sich trug. »Beim Wort des Herrn schwöre ich, dass ich die Wahrheit sage. Es spricht viel dafür, dass Nick Flanagan der letzte Nachkomme und Erbe des Hauses Graydon ist. Im Jahr des Herrn 1673 wurde das Schiff seines Vaters von französischen Piraten geentert. Im Lauf des Gefechts wurde Lord Clifford Graydon schwer verletzt, seine Gattin Lady Jamilla von den Piraten entführt. Von dem kleinen Nicolas jedoch fehlte jede Spur. Viele Jahre suchte der Lord nach seiner Frau und seinem Sohn, aber es war ihm nicht vergönnt, sie noch einmal wiederzusehen. Zumindest was seinen Sohn betraf, hat seine Hoffnung ihn jedoch allem Anschein nach nicht getrogen.«
»Und Ihr erwartet von mir, dass ich das glaube, Pater?«, fragte Elena hilflos. »Woher wollt Ihr all das wissen?«
»Sehr einfach, Mylady. Ich selbst war dabei.«
»Ihr selbst …?«
»Lord Clifford hatte stets seinen eigenen Kopf. Obwohl ich katholischer Ire bin, hat er mich zu seinem Hauspriester bestellt. Ich war ein enger Vertrauter der Familie und wusste um die Ereignisse, die zur Entsendung des Lords nach Jamaica geführt hatten, und ich war es auch, der ihn schwer verletzt vom brennenden Wrack der Valiant barg, damals, an jenem schicksalhaften Tag des Jahres 1673. Und die Seadragon, Mylady, ist das Schiff, mit dem Lord Graydon einst die Meere befahren hat auf der Suche nach den Seinen.«
»Aber das ist unmöglich …«
»Die Wege unseres Herrn sind unergründlich, Mylady. Als ich Nick traf, hatte er ein Medaillon um den Hals – jenes Medaillon, das Nicolas Graydon am Tag des Überfalls trug und das ein Abbild seiner Mutter zeigt.«
»Er könnte es auch gefunden haben. Oder gestohlen oder …«
»Er hat das entsprechende Alter«, wandte der Pater ein, »und eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem Vater ist ebenfalls vorhanden. Wie er uns berichtete, wuchs er bei einem alten Seemann auf, der ihn einst aus einem Rettungsboot fischte. In all den Jahren wusste Nick nichts von seiner wahren Herkunft. Erst kurz vor seinem Tod eröffnete ihm sein Ziehvater, dass Nick nicht sein leiblicher Sohn sei und er sich auf die Suche nach seiner wahren Herkunft machen müsse. Das hat Nick schließlich getan.«
»Ich verstehe.« Elena nickte. »Deshalb ist er aus Maracaibo geflohen …«
»Wenn die Zeichen uns nicht trügen, Mylady«, fuhr der Mönch fort, »ist Nick Flanagan der leibliche Sohn von Lord CliffordGraydon und damit ebenso vornehmer Abstammung wie Ihr selbst. Aber behaltet dieses Wissen für Euch. Nick weiß nicht, dass ich Euch davon erzähle, und er würde es auch nicht wollen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil, Mylady, er der Überzeugung ist, dass ein Mensch nicht nach seiner Herkunft, sondern nach seinen Taten beurteilt werden sollte, und dass Wahrheit Wahrheit bleibt, egal aus wessen Mund.«
Beschämt blickte Elena zu Boden. Die Tochter des Conde von Maracaibo war nicht auf den Mund gefallen, aber selbst sie wusste nichts darauf zu erwidern.
»Behaltet Euer Wissen
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