Die Erben der Schwarzen Flagge
schließlich waren einige von ihnen dem Soldatendasein wegen des Drills entflohen. Aber Bricassart schien Wert auf Gehorsam zu legen, und auch das gefiel Cutlass Joe.
»Maul halten jetzt«, wies einer der Bewacher sie mit lauter,tonloser Stimme an. »Ihr redet nur, wenn ihr gefragt werdet, habt ihr verstanden?«
Niemand widersprach, und aus einem der Festungsgebäude trat ein Mann, der von Kopf bis Fuß in schwarze Kleidung gehüllt war.
Bricassart.
Der Anblick des Kapitäns, um dessen Untaten sich Legenden rankten, ließ Cutlass Joes Herz höher schlagen. So und nicht anders hatte ein Piratenführer auszusehen: schwarze Hosen und ein ebenso schwarzes Hemd aus glänzender Seide, dazu hohe Stiefel und ein breiter Gürtel, an dem eine französische Klinge mit abgenutztem Griff hing. Ein Hut mit pechschwarzem Federbusch und ein dunkler Umhang vervollständigten die düstere Erscheinung. Nun war Cutlass Joe klar, weshalb man Bricassart als das Phantom der Karibik bezeichnete, und noch mehr als zuvor brannte er darauf, sich diesem Mann anzuschließen – bis der Schwarzgekleidete näher kam und Joe sein Gesicht sehen konnte.
»Deibel«, stieß Cutlass trotz des Redeverbots hervor, »der Kerl ist ja noch ein halbes Kind …«
Das war nicht übertrieben. Die blassen, milchbärtigen Züge unter der breiten Hutkrempe waren jetzt deutlich zu erkennen, und erschrocken musste Cutlass Joe sich eingestehen, dass dieser Mann nicht viel älter war als der verdammte Nick Flanagan. Dies konnte nie und nimmer der berüchtigte Kapitän Bricassart sein. Er hatte sich wohl geirrt …
»Die Rekruten sind angetreten, Kapitän Bricassart«, meldete in diesem Augenblick einer der Piraten und beseitigte damit die Zweifel. Joe fiel ein, dass Bricassart schon seit Jahrzehnten in der Karibik auf Beutezug ging … Wie war das möglich?, fragte er sich. Sollte es wahr sein, was man erzählte? Dass Bricassartein Geist war, ein vom Fluch getriebener Seemann, der weder altern konnte noch sterben und sich an den Seelen seiner Opfer labte?
Cutlass Joe schauderte und sah den jungen Mann plötzlich in einem anderen Licht. Langsam, mit kritisch musterndem Blick, schritt Bricassart die Reihe der Anwärter ab. Der Ausdruck seiner Augen ließ Joe schaudern. Etwas Kaltes, Lebloses lag darin.
»Du«, sagte Bricassart plötzlich und deutete auf einen der Männer. Er bediente sich der englischen Sprache, aber sein Akzent war unverkennbar französisch.
»Ich, Sir?«, fragte der Angesprochene.
» Oui. Warum bist du hier?«
»Arh, Sir, man nennt mich Long Huck, und ich …«
»Dein Name interessiert mich nicht, er hat hier keine Bedeutung«, beschied ihm der Jüngere mit einer Stimme, die trotz der Hitze die Luft gefrieren zu lassen schien. »Warum du hier bist, will ich wissen. Nichts weiter.«
»Um mich Euch anzuschließen, Sir.«
»Du bist ein Seemann?«
»Aye, Sir.«
»Und du kannst kämpfen?«
»Aye, Sir.«
»Taugst du zum Piraten?«
»Ich weiß nicht.« Huck entblößte sein lückenhaftes Gebiss. »Denke schon, Sir.«
»Beweise es.«
»Wie, Sir?«
»Sehr einfach.« Bricassart zückte ein Messer und hielt es dem Bewerber hin. »Nimm diese Klinge und erstich damit deinen Nebenmann.«
»Was, Sir?«
»Hörst du nicht? Dein Kapitän hat dir einen Befehl erteilt!«
Der lange Huck machte ein einfältiges Gesicht, während seine beiden Nebenmänner sichtlich nervös wurden. Dass sie nicht die Flucht ergriffen und auf und davon rannten, lag nur daran, dass Bricassarts Leute ihre Pistolen gezückt hatten und auf sie zielten.
Zögernd griff Huck nach der Klinge, dachte wohl, dass es besser wäre, wenn es jemand anderen erwischte als ihn selbst. Aber noch ehe er zustechen konnte, handelte Cutlass Joe.
Joe hatte sofort begriffen, worauf es Bricassart ankam. Der Franzose wollte Männer in seinen Reihen und keine Memmen, wollte Gefolgsleute, die keine Skrupel kannten und jeden Befehl ohne Zögern ausführten. Und wenn Joe etwas ganz sicher nicht hatte, dann waren es Skrupel.
Das kleine Messer, das er im Stiefelschaft herumzutragen pflegte, hatten Bricassarts Leute bei der Entwaffnung übersehen. Blitzschnell bückte er sich und griff nach der Klinge – und noch ehe Bricassart oder irgendjemand sonst begriff, was geschah, hatte er sie seinem Nebenmann schon bis zum Heft in den Hals gestoßen.
Der Seemann, dessen Namen Joe nicht einmal kannte, wollte schreien, aber der Blutschwall aus seiner Kehle unterdrückte jeden Laut. Ächzend griff sich der
Weitere Kostenlose Bücher