Die Erben der Schwarzen Flagge
sie, dass er ein Scheusal war, ein menschenverachtendes Monstrum, das nichts auf Ehre und Anstand gab und zu seiner bloßen Erbauung tötete.
»Ihr seid verrückt«, stellte sie mit vor Abscheu zitternder Stimme fest. »Ihr habt den Verstand verloren!«
»Mitnichten, ma chère. Ich sehe meine Ziele und Möglichkeiten so deutlich wie selten vor mir – Ihr hingegen solltet Euch gut überlegen, wen Ihr Euch zum Freund und wen zum Feind machen wollt. Ich habe Euch die Gunst erwiesen, Euch in das Geheimnis der Macht einzuweihen, die meiner Familie zuteil wurde. Ihr solltet diese Gunst nutzen, Doña Elena, dann werdet Ihr mich bald zu schätzen wissen.«
Damit wandte der junge Bricassart sich ab und ließ sie an der Achterreling zurück, und nie zuvor in ihrem Leben, nicht einmal in der Gefangenschaft Nick Flanagans, hatte sich Elena de Navarro so einsam und elend gefühlt wie in diesem Augenblick. Die Freiheit mochte die Grafentochter zurückgewonnen haben, aber was nützte sie ihr? Aus den Händen der Bukaniere war sie in die Gesellschaft eines Wahnsinnigen geraten, und der Gedanke, dass ihr Vater sich mit diesen Leuten eingelassen haben könnte, erschreckte sie nur noch mehr.
Während sie Damian Bricassarts von dunklem Stoff umwehter Gestalt nachblickte, wurde ihr klar, woher die kalte, abweisende Aura rührte, die den jungen Kapitän umgab. Es war das Böse, das von ihm ausging und das überall auf diesem Schiff zu lauern schien.
Die Leviathan war verflucht – und ebenso alle, die auf ihr reisten.
AKT III - Jamaica
AKT III
Jamaica
1.
Port Royal
20. Mai 1692
D ie Augenhöhlen waren leer und ausdruckslos – dafür verhießen das mit einem Apfel gestopfte Maul und die glänzende Honigglasur des Schweins delikate Gaumenfreuden. Auf einem riesigen Tablett trugen die Diener das am Spieß gebratene Tier herein, gefolgt von einem Tross Sklaven, die Schüsseln und Töpfe mit duftenden Speisen servierten.
Hunderte von Kerzen tauchten den Bankettsaal in gelben Schein, dessen hohe Decke sich über der langen, silbergedeckten Tafel wölbte. Musikanten brachten Tischmusik zu Gehör, Tänzerinnen wiegten sich anmutig im Rhythmus. Fast hätte man glauben können, bei vornehmen Leuten zu Gast zu sein – hätten die Musikanten nicht derbe Lieder gespielt, wie sie sonst nur in Spelunken und Bordellen gegrölt wurden, und wären die Tänzerinnen nicht halb nackt gewesen. Der Boden, über den sie leichtfüßig schwebten, war von Schmutz und Unrat übersät. Hunde tummelten sich unter der Tafel und balgten sich in Erwartung dessen, was von dem Festmahl für sie abfallen würde.
»Meine Anerkennung, Bricassart«, meinte Carlos de Navarro, der auf seidenen Kissen an der Seite seines feisten Verbündeten an der langen Tafel thronte. »Wie ich sehen kann, lebt Ihr hier keineswegs ohne Sinnesfreuden.«
»Das will ich meinen«, erwiderte der Anführer der Piraten,während seine Augen sich in Erwartung des kulinarischen Genusses weiteten – eine der letzten Sinnesfreuden, die ihm bei seiner Leibesfülle geblieben waren. Ein ganzer Trupp dunkelhäutiger Sklaven hatte den selbsternannten Commodore in den Saal getragen – ein grotesker Anblick, bei dem Navarro fast in Gelächter ausgebrochen war.
Dass der Conde Maracaibo zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit verlassen hatte – und das, obwohl er damit rechnen musste, dass die Spitzel des Vizekönigs dies umgehend nach Cartagena melden würden –, lag daran, dass man ihm berichtet hatte, Elena sei frei und er brauche nur nach Port Royal zu kommen, um sie in die Arme zu schließen.
Eine dreiste Lüge, wie sich herausgestellt hatte …
»In Anbetracht Eurer Gastfreundschaft bin ich bereit, Euch zu verzeihen, dass Ihr mich unter falschem Vorwand von Maracaibo fortgelockt habt«, sagte Navarro und sah zu, wie die Diener das Schwein und die anderen Spezereien auf der Tafel kredenzten.
»Es war kein Vorwand«, versicherte Bricassart. Den kahlköpfigen Fleischberg reden und gestikulieren zu sehen, war an sich schon ein bizarrer Anblick, von dem künstlichen Rubinauge, in dem sich der Schein der Kerzen spiegelte, ganz zu schweigen. »Ich wollte nur, dass Ihr hier seid, wenn Damian mit Eurer Tochter eintrifft, damit Ihr sie angemessen begrüßen könnt.«
»Ich will hoffen, dass Ihr Recht habt, Bricassart, denn ich riskiere viel mit meiner Abwesenheit. Ein Dutzend Spione belauert mich und wartet nur darauf, dass ich einen Fehler begehe. Hat der Vizekönig auch nur den geringsten
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