Die Erben der Schwarzen Flagge
zerschellten an der Entschlossenheit der Piraten wie die Brandung an einer Klippe. Es war ein sinnloses Blutvergießen, und es war grässlich, tatenlos dabei zuzusehen. Nick fragte sich, ob die Tränen in den Augen seiner Kameraden tatsächlich nur vom Pulverdampf herrührten, der die Luft über der Festung durchsetzte.
»Nun?«, fragte Bricassart, der in Anbetracht des Anlasses mit der Tradition gebrochen und sein dunkles Domizil zum zweiten Mal in Folge verlassen hatte. »Habe ich Euch zu viel versprochen, Flanagan? Ich hatte Euch eine vollkommene Niederlage angekündigt, nicht wahr?«
»Allerdings«, gab Nick widerstrebend zu.
Selten war eine Niederlage vollkommener gewesen.
Die Prosecutor draußen in der Bucht hatte die Flagge gestrichen und das Feuer eingestellt, wohl weil der Befehlshabererkannt hatte, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Von dem Enterkommando, mit dem Scarborough angelandet war, stand nur noch ein Drittel auf den Beinen, ein Drittel war gefallen, ein weiteres verwundet. Eine Möglichkeit zum Rückzug gab es nicht; Bricassarts Leute hatten den Engländern den Weg abgeschnitten und waren dabei, sie einzukreisen. Von der Festung aus betrachtet, sah es aus, als werde eine Schlinge um die Überlebenden gelegt, die sich immer enger zuzog.
Nick wusste nicht, was Scarborough weiter beschließen würde, aber es stand unzweifelhaft fest, dass die Schlacht um Port Royal verloren war – und im Osten dämmerte der neue Tag herauf.
15.
Port Royal, Jamaica
7. Juni 1692
V incent Scarborough stand so unbewegt, als wäre er selbst zu der Statue geworden, die er sich in Anerkennung seiner Verdienste erhofft hatte. Das Gesicht eine steinerne Maske, musste der Offizier sich eingestehen, dass es mit diesen Verdiensten nicht weit her war; sein Verband war aufgerieben, sein Auftrag, Port Royal aus den Klauen der Seeräuber zu befreien, kläglich gescheitert.
Von den Piraten umzingelt, war Scarboroughs Wahl Gefangenschaft oder Vernichtung. Und als wäre das noch nicht genug, musste der Captain auch noch erkennen, dass sein Erster Offizier die Entscheidung darüber bereits getroffen hatte. Von einerHorde Piraten begleitet, gelangten Benson und die verbliebene Mannschaft der Prosecutor am Ufer an und wurden in die Mitte des Kreises geführt, den die Seeräuber um den Marktplatz gebildet hatten.
»Lieutenant!«, bellte Scarborough. Der Zorn, der eigentlich ihm selbst galt, entlud sich auf seinen unglücklichen Stellvertreter. »Was fällt Euch ein, sich dem Feind zu ergeben? Habe ich Euch eine entsprechende Order erteilt?«
»Nein, Sir, das habt Ihr nicht«, räumte Benson ein. »Aber ein guter Offizier erkennt, wann er auf verlorenem Posten kämpft, und handelt zum Wohl seiner Mannschaft.«
»Ein Feigling handelt so«, beschied ihm der Kapitän. »Ich schwöre Euch, Benson, dafür bringe ich Euch vor ein Kriegsgericht.«
»Bei allem Respekt, Sir«, konterte der Lieutenant mit freudlosem Lächeln, »ich denke nicht, dass ich mir darüber noch Gedanken zu machen brauche.«
Scarborough murmelte Worte wie Ehre und Anstand, ohne sie in einen Zusammenhang zu bringen – was hätte er auch erwidern sollen? Ihre Niederlage war besiegelt, und die einzige Wahl, die sich ihnen bot, war die zwischen Pest und Cholera. Drohend umlagerten die Piraten den versprengten Haufen Briten. Noch hatten Scarborough und die Seinen ihre Waffen nicht niedergelegt, noch bot sich ihnen die Gelegenheit zu einem ehrenvollen Tod. Allerdings fragte sich Scarborough auch, was daran so ehrenvoll sein mochte, innerhalb von Augenblicken von den Säbeln und Entermessern der Piraten in Stücke gehackt zu werden. Der Offizier hatte so viel Blut, so viele Eingeweide und abgehackte Gliedmaßen gesehen, dass es ihn graute, den Kampf bis zum Ende zu führen, und er merkte, wie seine Prinzipien zu weichen begannen.
Plötzlich gab es jenseits des Kordons der Piraten Tumult. Eine Gasse bildete sich im wirren Haufen der Galgenvögel, und etwas Großes, Unförmiges wurde herangetragen, das Scarborough erst beim zweiten Hinsehen als einen Menschen erkennen konnte.
Auf einer riesigen, von Negersklaven getragenen Sänfte ruhte ein Mann, der in ein weites schwarzes Gewand gehüllt und ohne Frage der abstoßendste Kerl war, den Scarborough je zu Gesicht bekommen hatte. Ein feister Leib, bleiche Haut, Haifischzähne und ein künstliches Auge, in dem das Feuer der Hölle zu lodern schien, vereinigten sich zu einer wahren Schreckgestalt, und Scarborough
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