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Die Erben der Schwarzen Flagge

Die Erben der Schwarzen Flagge

Titel: Die Erben der Schwarzen Flagge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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gestattete man ihm zu gehen. Wie in Trance verließ er den Kerker und die Festung, wurde zurück zum Lager gebracht. Die grässlichen Schreie hatte er noch im Ohr und würde sie wohl niemals vergessen.
    Im fahlen Morgenlicht erreichten Nick und seine Bewacher das Tor des von Palisaden umgebenen Sklavendorfs. Davor war ein großes, aus Palmenstämmen errichtetes Dreibein aufgestellt, an dem noch gestern die Überreste des Holländers gehangenhatten, der vergeblich versucht hatte, aus dem Lager zu fliehen. Jetzt baumelte dort oben ein rostiger Käfig, in den man einen leblosen, blutigen Torso gepfercht hatte. So sah Nick den Mann wieder, der ihn aufgezogen und den er wie einen Vater geliebt hatte – oder vielmehr das, was Navarros Folterknechte von ihm übrig gelassen hatten.
    Schwärme von Fliegen umgaben den entsetzlich zugerichteten Leichnam, an dem sich Krähen und Möwen gütlich tun würden, ehe die Hitze und die Sonne ihn zerfallen ließen. Kein Mensch hatte es verdient, auf diese Weise zur Schau gestellt zu werden, am allerwenigsten der alte Angus, der niemals jemandem etwas zuleide getan hatte.
    Nick spürte, wie sich unbändiger Zorn zu seiner Trauer gesellte, und vor dem Leichnam des alten Angus schwor er sich, dass Carlos de Navarro einst büßen würde für das, was er ihm angetan hatte.
    Vielleicht nicht heute und nicht morgen.
    Aber gewiss irgendwann …
    Die Aufseher brachten ihn ins Lager zurück. Nick merkte, wie sich Blicke auf ihn richteten. Die anderen Sklaven hatten erfahren, was geschehen war – Mitgefühl war dennoch nicht zu erwarten. Jeder der Gefangenen war auf sein eigenes Überleben bedacht, und so bestürzt viele über das Ende des alten Angus sein mochten, so erleichtert waren sie auch, dass nicht sie es waren, die dort draußen im Käfig verrotteten.
    Die klirrenden Sklavenketten um die Füße, kehrte Nick zu seiner Unterkunft zurück, wo Jim und Unquatl ihn erwarteten. Der eine wollte ihm Trost zusprechen, der andere ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legen, aber Nick ließ sie beide stehen und suchte das Lager seines Ziehvaters auf. Am Kopfende des Platzes, an dem Angus die letzten zwölf Jahre genächtigt hatte, fand ertatsächlich etwas vergraben, genau wie der Alte gesagt hatte – einen kleinen, in ein Stück Ölzeug gewickelten Gegenstand, den Nick hervorholte und auspackte.
    Es war ein hübsch gearbeitetes, ovales Silbermedaillon, das man öffnen konnte und auf dessen Vorderseite der Name »Nicolas« eingraviert war. Als Bootsmannsmaat war der alte Angus des Lesens und Schreibens kundig gewesen, und so hatte er wohl angenommen, dass dies der Name des Jungen war, den er vor vielen Jahren an Bord des Nachens gefunden hatte.
    Gespannt öffnete Nick das Schmuckstück. Auf der linken Innenseite befand sich die filigrane Gravur eines sich windenden Drachen. Auf der anderen Seite war das kunstvoll gezeichnete Bild einer jungen Frau zu sehen. Obgleich Nick sich nicht erinnern konnte, ihr jemals begegnet zu sein, hatten ihre Züge etwas Vertrautes, und er fragte sich, wer sie wohl sein mochte.
    Zweifellos jemand, der in Verbindung mit Nicks Vergangenheit stand … Vielleicht seine Mutter? Ob sie wohl noch am Leben war? Oder war sie an jenem schicksalhaften Tag das Opfer blutrünstiger Piraten geworden?
    Nick hatte nie eine Mutter gehabt. Der alte Angus hatte alles Menschenmögliche getan, um beide Elternteile zu ersetzen. Aber nachdem er nicht mehr am Leben war, drängte es Nick herauszufinden, wer er wirklich war und woher er stammte. Nach all den Jahren begriff er, was sein Ziehvater gemeint hatte, als er von jenem Stern gesprochen hatte, dem Nick folgen sollte. Es war Angus’ letzter Wunsch gewesen, und Nick wollte ihn um jeden Preis erfüllen. Zu seiner Trauer und seinem Zorn gesellten sich Neugier und Tatendrang.
    »Ich werde herausfinden, wer ich bin«, nahm er sich flüsternd vor, ehe er das Medaillon wieder zuklappte, es in den Öllappen wickelte und unter seinem eigenen Lager vergrub. Es um den Halszu tragen, wäre im Hinblick auf die Aufseher zu gefährlich gewesen. Da Sklaven kein persönlicher Besitz gestattet war, hätten sie es ihm bei der ersten Gelegenheit abgenommen und ihn dafür noch ausgepeitscht.
    Und während Nick die Stelle glättete, unter der er das Schmuckstück vergraben hatte, fasste er einen gewagten Entschluss: Wenn er sich wirklich auf die Suche nach seinen Wurzeln begeben wollte, so musste er fliehen. Als Sklave würde er niemals erfahren, was es

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