Die Erben der Schwarzen Flagge
gelebt hatten, um einige zusammenhanglose Worte zu stammeln. Der Name des Schiffes war weithin bekannt, und er wurde selbst von gestandenen Fahrensmännern nur flüsternd ausgesprochen.
Leviathan.
Oberhalb der grässlichen Heckgalerie stand ein junger Mann auf den Planken des Hüttendecks. Wie das Schiff, das er befehligte, war auch er in tiefstes Schwarz gehüllt, und ein dunkler Umhang umwehte seine hagere Gestalt. Seine bleiche Haut bot einen eigentümlichen Gegensatz zu seiner Kleidung und vervollständigte seine unheimliche Erscheinung. Es kam nicht von ungefähr, dass abergläubische Seeleute auch den Kapitän der Leviathan für ein Phantom hielten, für eine ruhelose Seele, die weder altern noch sterben konnte und die seit Jahrzehnten die Karibik befuhr, getrieben von einem Fluch, der sie immerzu brennen und morden ließ.
Aber Damian Bricassart war weder Geist noch Phantom, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Allerdings hatten jene Recht, die behaupteten, die Leviathan durchkreuze die Meere bereits seit Jahrzehnten: Vor Damian hatte sein Vater das Schiff befehligt, und er war es auch gewesen, der das Gerücht vom Geisterschiff in die Welt gesetzt hatte. Schwarze Segel und grausiger Mummenschanz hatten die Leviathan zum Inbegriff des Schreckens werden lassen – und nicht zuletzt die Tatsache, dass ihr Kapitän in all den Jahren nicht gealtert zu sein schien. Damiankonnte über solchen Aberglauben nur lachen. Er mochte das Gefühl, gefürchtet zu werden, und er genoss die furchtsamen Blicke, mit denen sein Schiff bedacht wurde, wenn es nach langer Fahrt nach Port Royal zurückkehrte. Beides half ein wenig, den ständigen Hunger nach Macht zu stillen, der seine verderbte Seele erfüllte.
Schon tauchten die ersten Gebäude aus dem Nebel auf – gedrungene Hütten aus Holz, die das Hafenbecken säumten und den Seeleuten allerhand Zerstreuung boten. Port Royal lag auf einer Halbinsel am südöstlichen Ende Jamaicas. Zum Meer hin war die Insel wie eine Sichel gebogen und formte einen von Klippen gesäumten, natürlichen Hafen, der Schutz vor den Gezeiten und vor der Brandung bot – ein Vorteil, den vor den Piraten auch andere zu nutzen gewusst hatten.
Noch vor zwei Jahrzehnten war Port Royal eine aufblühende britische Siedlung gewesen, aber dann waren die Briten das Opfer ihrer eigenen Politik geworden. Die Freibeuter, die sie angeworben hatten, um sie im Seekrieg gegen Spanien zu unterstützen, hatten sich gegen sie gewandt und die Stadt auf Jamaica in Besitz genommen. In den darauf folgenden Jahren hatte Port Royal einen Aufschwung ohnegleichen erlebt; Piraten und Glücksritter aus allen Teilen der Welt waren hier zusammengeströmt, um Zuflucht zu suchen und dem Glücksspiel und Laster zu frönen. In Port Royal stellte niemand Fragen; es gab kein Gesetz, und die Einwohner waren stolz darauf. Das Recht des Stärkeren regierte – und Damians Vater, der Commodore Bricassart, war der stärkste von allen. Er war der uneingeschränkte Herrscher über Jamaica, Herr nicht nur über Port Royal, sondern auch über eine ansehnliche Flotte, deren Flaggschiff die Leviathan war.
Von Tortuga vertrieben, das die Spanier von Hispaniola aus immer wieder angegriffen hatten, hatte der Commodore einst dieSegel gesetzt und mit der Leviathan südlichen Kurs genommen. Als »Franzose« hatte er sich entlang der Windward-Passage als berüchtigter Pirat einen Namen gemacht, der von Spaniern wie Briten bald nur noch furchtsam geflüstert worden war. Schließlich hatte ihn sein Weg nach Port Royal geführt, wo er die confrérie des morts gegründet hatte – die Bruderschaft der Toten. Diesem Bündnis, dem sich im Lauf der Zeit immer mehr Piraten angeschlossen hatten (und längst nicht alle aus freien Stücken), hatte Port Royal seinen raschen Aufstieg zu verdanken; innerhalb weniger Jahre hatte die Stadt Tortuga den Rang abgelaufen, und eine neue Hochburg der Piraterie und des Lasters war unter Bricassarts Herrschaft in der Karibik entstanden.
Bricassarts Residenz war der alte Gouverneurspalast, der sich jenseits all der Spelunken, Bordelle, Spielhöllen, Schnapsläden und Waffenschmieden erhob, die es in Port Royal zu Dutzenden gab. Über dem höchsten Turm des Palasts wehte längst nicht mehr die britische Flagge; der Commodore hatte seine eigene hissen lassen – le pavillon noir –, die einen Totenkopf und ein Stundenglas zeigte. Am Großmasttopp der Leviathan flatterte ein verkleinertes Abbild jenes Banners, dessen
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