Die Erben des Terrors (German Edition)
verlassen, wenn er stark insistierte. Und dann auch nur widerwillig, bis die beiden eine Woche zuvor endlich von Sonnenstrahlen geweckt worden waren.
„Grigory!“, rief Célestine nochmal, und diesmal fiel es Dzerzhinsky auf, dass sie ihre Lippen bewegte. Natürlich war es unmöglich, sie aus zehn Meter Entfernung gegen den Wind zu verstehen. Er winkte sie zu sich, und wenige Sekunden später war sie bei ihm im Cockpit. „Schau, Grigory! Siehst du den Berg?“, sagte Célestine und deutete nach vorne, wo die aufgehende Sonne einen kleinen, spitzen, dunklen, bergförmigen Schatten über dem Horizont produzierte. Dzerzhinsky weckte sein Smartphone aus dem Standby und wischte ein paar Mal über das Display, bis er die Küste auf dem Bildschirm hatte. Vierzig Seemeilen bis Caldera, berechnete das Gerät, eigentlich zu weit, um die Küste zu sehen – die chilenische Küste ist relativ flach. Er scrollte etwas durch die Karte, bis er eine eingezeichnete Erhebung fand.
Ojos del Salado , mit fast sieben Kilometern über dem Meeresspiegel der höchste Vulkan der Erde. Und, wie ihm das Smartphone verriet, fast dreihundert Kilometer entfernt. „Wow“, sagte er. „Ja“, entgegnete Célestine erfreut, „endlich wieder Land“.
„Mehr als das“, ergänzte Dzerzhinsky, „Land und gutes Wetter!“.
„Wann sind wir denn da?“, frage sie.
„An Land? Also, die Küste ist näher als der Berg…“
Célestine sah ihn verwundert an. Alles, was sie kannte, waren kleine, vulkanische Inseln. Da war der Berg das Land. Oder es gab keinen Berg.
Dzerzhinsky erklärte ihr, dass man den Berg nur sah, weil er so hoch war, und sie in ein, zwei Stunden auch die flache Küste sehen würden. Und dann, bis sie am Abend in den Hafen von Caldera einlaufen würden, immer mehr und mehr und mehr Land, und selbst im Hafen immer noch nicht den Fuß des Berges.
Célestine glaubte ihm kein Wort, bis sie in einem kleinen Café auf dem Plaza Carlos Condell auf die Brüstung der Hochterrasse kletterte und nach Osten blickend trotz des wundervollen Abendlichts immer noch nur den halben Berg sah.
Ausweichmanöver
15. August 2013
25° 02’ 01.44” Nord, 121° 33’ 54.31” Ost
Taipei 101, Taibei, Republik China (Taiwan)
Was an keinem Ort, der irgendeine Bedeutung in der globalisierten Welt hatte, im einundzwanzigsten Jahrhundert fehlen konnte, war ein Starbucks. Und wä hrend Jin Zhang den unverschämt teuren Kaffee nicht einmal mochte, gab es hier völlig anonymen Internetzugang. Zudem fiel er kaum auf unter den vielen jungen Taiwanern, die mit ihren Notebooks, Netbooks und Tablets im Internet surften und wichtige Dinge auf Facebook, Instragram oder Tumblr erledigten. Im Gegensatz zu ihnen war Zhang aber darauf bedacht, endlich herauszufinden, was vor etwa vier Wochen passiert war.
16. Juli 2013
31° 20’ 57.31” Nord, 121° 34’ 24.64” Ost
In einem kleinen Lokal in der Nähe des Hauptquartiers der Spezialeinheit 61398, Shanghai, Volksrepublik China
An einem sonnigen, stickig-heißen Dienstagabend setzte sich Zhang nach der Arbeit wie üblich in eines der kleinen Straßenlokale, um eine Portion Nudelsuppe zu essen, bevor er nach Hause ging. Er mochte das kleine Lokal mit gerade zwölf billigen Plastikhockern an schmutzigen Tischen. Vor allem aber war Wang Liu, der Koch und Besitzer des Etablissements, ein Meister bei der Zubereitung von Chang Mien , der chinesischen Variante von Spaghetti. Aus einem einzigen Klumpen Teig konnte Wang in wenigen Sekunden Dutzende Meter dünner Nudel ziehen, indem er den Teig streckte, faltete, wieder streckte, faltete… es war faszinierend, ihm zuzusehen. Als Zhang in Deutschland war, zeigten ihm seine deutschen Freunde einen italienischen Pizzabäcker, der ähnlich kunstvoll aus einem Teigklumpen einen Pizzaboden formte. Das war ähnlich.
Wang ließ den zu einer einzigen, unendlich langen Nudel geformten Teig sanft in einen großen Stahltopf über einem Gasfeuer gleiten und begann, eine wei tgehend saubere Schüssel mit den Kräutern, Gewürzen und Fleischstücken zu füllen, die Zhang bestellt hatte. Nach kurzer Zeit waren die Nudeln gar und mit einer überdimensionalen Schöpfkelle sammelte der erfahrene Koch die Nudel aus der Brühe. Er entleerte die Kelle in einem Zug in die vorbereitete Schüssel und füllte sie damit bis an den Rand – kein Milliliter zu viel, und keiner zu wenig.
Fünf Minuten später hatte Zhang die Hälfte der Suppe gegessen, als das Smar tphone in seiner
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