Die Erben des Terrors (German Edition)
nicht vertraut war. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Wir können auch zu einem Schneider, in Moskau, wenn du das möchtest, aber jetzt müssen wir etwas kaufen.“
Şemşat lächelte glücklich und hoffte, dass Timur ehrlich war und er nicht fand, dass sie einen Schneider bräuchten, weil sie nicht gut genug nähen würde. Dass reiche Leute nicht selbst nähen, das wusste sie aus ihren Büchern, und deswegen beschloss sie, dass das zum Leben eines reichen Muskoviten wohl genauso dazugehört wie Pelzmäntel. Sie lächelte Timur verliebt an und ging sich anziehen.
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Das Telefon klingelte. Şemşat, die auf dem Bett saß, erschrak kurz, da es sehr laut war, aber Murdalov nahm den Hörer schnell ab. „Gerne“, sagte er in den Apparat, nachdem er kurz zugehört hatte.
Kurz darauf klopfte es an der Tür, und Murdalov öffnete. Vor der Tür stand ein Mann mit einer Baskenmütze, die er sofort abnahm. Er bedeutete Şemşat, dass sie kommen solle. Beide gingen mit dem Mann wortlos zum Aufzug, fuhren zur Lobby, liefen durch den großen, hellen, marmorierten Raum und stiegen dann in das Auto, dessen Tür der Mann für sie aufhielt.
Wenig später standen sie vor einem Gebäude, das den Flughafen in Aşgabat aussehen ließ wie eine billige Herberge. An den Fenstern standen Namen, die französisch klangen. Ein paar hatte Şemşat schon gehört, aus den Magazinen, die die Nomaden stellenweise daließen. Eines davon, Vogue , mochte Şemşat besonders gerne, auch wenn sie die französischen Texte nicht lesen konnte. Aber die Frauen waren immer schön angezogen, wenn auch sehr wenig. Aus den Zeitschriften kannte sie die Namen an den Fenstern des Glaspalastes: Chanel, Dior, Versace und so weiter.
Ob Timur wirklich dachte, dass sie so wenig anziehen sollte wie die Frauen in den Vogue-Magazinen, überlegte Şemşat: Sie stellte aber schnell fest, dass das offenbar schon beschlossene Sache war, als er ihre Hand nahm und sich in Richtung des Ladens zu bewegen begann.
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Drei Stunden später verließen eine glückliche, aber frierende Şemşat und ein sehr genervter Timur Murdalov den Haute-Couture-Laden in Almaty. Şemşat trug ein zartblaues Gucci-Kostüm mit einem Rock, der kaum ihre Knie bedeckte – immerhin tat er das, die ersten Röcke, die man ihr angeboten hatte, waren eher Gürtel. Dazu trug sie eine weiße Bluse, die sehr aufwändige Rüschen hatte, die Timur zwar nicht leiden konnte, dafür aber Şemşat umso mehr und die Dame, die so lange so nett gewesen war meinte, das sei „ein Muss“. Über der Bluse, die deutlich zu wenige Knöpfe hatte, um sie bis zum Hals zu schließen, trug sie einen zum Rock passenden Blazer, der sich über ihre Brüste spannte. Auf den weißen Mantel aus Kaschmirwolle hatte sie bestanden, auf die schwarzen Schuhe mit den Absätzen Timur und die Verkäuferin.
Murdalov hatte, nachdem sich Şemşat nach fast drei Stunden endlich für ein Outfit entschieden hatte, einen schwarzen Anzug von Zegna und einen grauen von Brooks Brothers gewählt. Er kannte beide Marken nicht, aber die Preisschilder machten die deutliche Aussage, dass das absolute Oberklasse sei. Das hatte vierzehn Minuten gedauert. Es hat sich trotzdem gelohnt, das Warten, dachte er, als er seine Frau betrachtete: Sie sah großartig aus.
1 7. Juni 1998
54° 01‘ 11.76” Nord, 61° 38’ 41.26” Ost
Kasachisch-Russische Grenze, 2 Kilometer südöstlich von Troizk, Russland
Şemşat Murdalova und ihr Ehemann hatten die letzten beiden Tage in einem Zug zugebracht. Şemşat mochte Züge nicht so sehr wie Flugzeuge, weil sie nicht aufregend waren. Dafür aber waren sie bequemer, und man hatte in dem Abteil, das Timur für sie beide gebucht hatte, viel Platz und vor allem viel Zeit, weswegen sie sehr wenige Gelegenheiten hatte, die neuen Kleidungsstücke zu tragen. Jetzt aber war sie perfekt angezogen, Timur ebenso.
Es klopfte an der Tür des Abteils. Bevor einer der beiden antworten konnte, wurde die Türe auch schon aufgerissen. Ein grimmig blickender russischer Soldat betrat das Abteil, zwei Kollegen hinter ihm schauten genauso finster. Einer der beiden hatte ein schweres Gewehr, der andere einen Schäferhund. Alle drei hielten kurz inne und starrten in Şemşats Dekolleté, bis sich Timur nach einer Höflichkeitspause räusperte.
„Papiere“, sagte der grimmig blickende Soldat schroff zu Timur, wandte sich zu Şemşat und ergänzte in einem sehr viel freundlicheren Tonfall „Ihre bitte auch, werte
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