Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Achse und hielt den Rock vom Körper weg, damit er das knielange Unterkleid begutachten konnte. »Wie findest du das?«
»Gefällt mir, glaube ich.«
»Das ist die neue Mode.«
»Behauptet jedenfalls Abel DuMont.«
Die klein gewachsene, dralle Lucy von früher mit dem runden Puppengesicht, die völlig in ihn vernarrt war, fiel ihm ein. Ihr letztes Treffen war wenig mehr als ein Jahr her, und
doch hatte er sie völlig vergessen. Er griff nach ihren beiden Gepäckstücken, aber sie nahm einen Koffer und ließ die freie Hand in die seine gleiten, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter; es amüsierte ihn, die weichen braunen Haare auf ihrem Oberkopf zu betrachten und zu sehen, wie ihre winzigen Füße auf dem Weg zum Pierce-Arrow dahintrippeln mussten, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
An jenem Abend erfüllte Lachen den Haushalt der Warwicks. Lucy unterhielt sie mit drolligen Anekdoten über ihre Schülerinnen und den Unterricht, verdrehte die Augen und untermalte ihre Schilderungen mit ihren kleinen, feisten Händen, so dass sogar Beatrice von ihr eingenommen zu sein schien. Auf Percys Vorschlag hin begleitete Lucy ihn am Freitag zum Holzlager und verkürzte die Zeit, die nötig war, die Lieferung aufzunehmen, indem sie ihm die Zahlen auf dem Lieferschein vorlas. Am Samstag begleitete Percy sie zur Gartenparty der Kendricks und nahm sie vorher sogar zu einem Essen bei einem Freund mit.
»Ich dachte, du bist inzwischen verheiratet«, sagte sie am Abend. »Was ist aus der Frau geworden, die du schon ihr ganzes Leben lang liebst?«
»Sie hat einen andern geheiratet.«
»Einen andern ?«
»Er hatte ihr mehr zu bieten als ich.«
»Das kann ich nicht glauben.«
»Doch.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Ihr Mann hat sie weit weggebracht.«
»Warst du traurig, als sie einen andern geheiratet hat?«
»Natürlich, aber das ist Schnee von gestern.«
Als er sie am Sonntagnachmittag zum Zug brachte, ließ er sie mit Bedauern ziehen. In den wenigen Tagen miteinander
hatte er festgestellt, dass er jene Charakterzüge Lucys, die Mary hasste, erfrischend fand. Sie nannte die Dinge beim Namen und gab wenig auf gute Manieren, wenn diese mit Anmaßung, Aufgeblasenheit oder Pedanterie einhergingen. Anders als Mary, die lieber zuhörte, redete Lucy gern und äußerte zu allem eine Meinung, was ihre Zimmergenossin in Bellington Hall zur Weißglut getrieben hatte.
Obwohl ihr Gesicht »bei einem Indianerüberfall niemanden dazu gebracht hätte, ihr beizustehen«, wie Beatrice schonungslos bemerkte, gefiel Percy manches daran – das Strahlen ihrer Augen, das koboldartige Zucken ihres Näschens, das permanente Schürzen ihrer Lippen, wenn etwas sie erstaunte oder entzückte.
Ihre Statur und geringe Größe, ihre Rundungen, die Fettröllchen an Handgelenk, Ellbogen und Knie entzückten ihn genauso wie ihre Ohren. Rosafarben und zart geformt, standen sie von ihrem Kopf ab wie Griffe, die Läppchen kaum größer als ein Feenfinger. Grazil war sie nicht gerade, doch sie hatte eine schmale Taille, die er gern mit den Händen umfasste, um sie hochzuheben, wenn sie aufgrund ihres kleinen Wuchses etwas nicht sehen konnte.
Am Nachmittag ihrer Abreise küsste er sie das erste Mal. Eigentlich sollte es nur ein freundschaftlicher Kuss auf ihre runde Wange werden, aber als sie ihn mit ihren porzellanblauen Augen bewundernd anblickte, legte er den Arm um ihre Taille und zog sie zu sich heran. Ihr Mund war warm und weich, und seine Lippen lösten sich nur ungern wieder davon.
Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich fragen: »Wie wär’s, wenn ich dich nächstes Wochenende in Belton besuche?«
Sie sah ihn mit offenem Mund an. »Percy! Ist das dein Ernst?«
»Ja«, antwortete er lachend.
So fing alles an.
Seine Mutter reagierte besorgt. »Mach dir keine Gedanken, Mutter«, beruhigte er sie. »Dieser Besuch soll mich bloß ablenken.«
»Für Lucy ist das bestimmt nicht nur eine Ablenkung.«
»Ich habe ihr nichts versprochen.«
»Egal. Das Mädchen hört das Gras wachsen.«
Lucy beschäftigte ihn nicht die ganze Zeit, wie Mary es getan hatte. Manchmal vergingen Tage, ohne dass er ein einziges Mal an sie dachte, aber mit ihr konnte er die Wochenenden verbringen, sie stimmte ihn fröhlich, schmeichelte seinem Ego und war für ihn da, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
Und sie überraschte ihn mehr als einmal. Er dachte, sein Reichtum würde sie beeindrucken, stellte jedoch fest,
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