Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Umschlag. Er hüstelte, um zu kaschieren, dass es ihm den Atem verschlug. »Hat er gesagt, wer ihn schickt?«
»Nein, Sir. Er wollte es mir nicht verraten.«
»Danke, Sally.«
Percy öffnete den versiegelten Umschlag erst, als die Tür geschlossen war, und holte ein einzelnes Blatt Papier heraus: »Komm heute um drei Uhr zur Hütte. ML«
ML. Mary Lamb.
Percy lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Was war los? Die Angelegenheit musste wichtig und geheim sein, denn sonst hätte Mary ihn nicht um ein Treffen an der Hütte gebeten, jenem Ort voller Erinnerungen. Fünfzehn Jahre waren sie nicht mehr dort gewesen, seit dem Nachmittag ihrer schicksalhaften Auseinandersetzung.
Am Abend zuvor, bei der kleinen Willkommensfeier für William, den Sohn von Miles, der nach dem Tod seines Vaters in Paris nun bei Mary und Ollie leben würde, hatte sie keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass irgendetwas nicht stimmte. Ollies und ihre Nervosität hatte Percy den harten Zeiten zugeschrieben, die im Land herrschten. Wie sehr die beiden davon betroffen waren, konnte Percy nicht beurteilen. Die Familien sprachen nie miteinander über ihre finanziellen
Probleme, doch die fallenden Baumwollpreise und Einbußen im Einzelhandel wirkten sich mit Sicherheit negativ auf sie aus. Natürlich machte Percy sich Gedanken über die Zukunft der DuMonts, aber noch mehr über die Matthews. Die Sorgen der DuMonts waren auch die seines Sohnes.
Hatte Marys Botschaft mit Wyatt zu tun?
Man konnte nie wissen, welche Kapriolen das Schicksal schlug und welche Karten es austeilte. Nach der Episode in der Hütte hatte Percy gefürchtet, dass sein Sohn Matthew noch intensiver hassen würde, doch genau das Gegenteil war eingetreten. Zu seiner, Lucys und Miss Thompsons Verwunderung hatten die Jungen sich kurz darauf angefreundet, und am Ende des Schuljahres waren sie schon unzertrennlich gewesen – wie Brüder, lautete die allgemeine Meinung.
Zuerst hatte Percy gedacht, Wyatts Annäherung an Matthew sei der Versuch, sich bei ihm, Percy, einzuschmeicheln. Doch bald wurde klar, dass Wyatt sich nicht im Geringsten für die – wie auch immer beschaffene – Meinung seines Vaters interessierte. Sein Sohn buhlte nicht um seine Aufmerksamkeit oder Zuneigung; er hörte schlicht und ergreifend auf, ihn wahrzunehmen.
»Begreifst du jetzt, was du angerichtet hast?«, zeterte Lucy. »Du hast den einzigen Sohn von dir gestoßen, den du jemals den deinen nennen kannst. Du liebst ihn nicht, doch möglicherweise hätte er dich eines Tages geliebt. Liebe können wir alle gebrauchen, Percy, egal, von wem. Sieh dich um: Vielleicht ist dir noch nicht aufgefallen, dass die früher so üppig sprudelnden Quellen versiegt sind.«
Sie hatte recht – wie so oft. Nach dem Tod seiner Eltern, der Trennung von Mary und der Entfremdung seiner Frau und seines Sohnes blieben Percy nur noch Ollie und Matthew, dessen Zuneigung zwar aufrichtig und echt war, aber eben nur
die eines Neffen zu seinem Lieblingsonkel. Nach vierzehn Jahren Ehe und vierzig Jahren Leben hatte er sich eigentlich mehr erhofft.
Hatte Mary am Ende von seiner Affäre mit Sara Thompson erfahren?
Nachdem er Wyatt mit geplatzter Lippe und angeschwollener Nase in die Schule zurückgeschickt hatte, war er jede Woche zu ihr gegangen, um mit ihr über das Betragen seines Sohnes zu sprechen. Das eine hatte zum anderen geführt, und nun trafen sie sich regelmäßig an abgelegenen Orten. Er gab sich große Mühe, die Beziehung mit Sara geheim zu halten, weniger seinetwegen als Sara zuliebe. Weil inzwischen allgemein bekannt war, wie es um die Ehe der Warwicks stand, hätte niemand ihm eine Geliebte übel genommen, solange die Treffen außerhalb von Howbutker stattfanden und im Hinblick auf seine Frau und seinen Sohn diskret verliefen. Trotzdem lebte er in ständiger Angst, dass etwas schiefging und ihre Liaison aufflog. Mit klammem Herzen überlegte Percy, ob Mary ihn in der Hütte vor einem drohenden Skandal warnen wollte.
Obwohl er die Hütte frühzeitig erreichte, wartete Mary bereits auf ihn. Ein glänzendes Automobil stand unter dem Baum, an den früher Shawnee und der Einspänner angebunden gewesen waren. Percy blieb ein paar Minuten in seinem Cadillac sitzen, um sich zu sammeln.
Als er die Hütte schließlich betrat, sah er sie in der Mitte des Raums stehen, den Kopf ein wenig schräg gelegt. Ob sie in Gedanken in der Vergangenheit weilte? Sie trug ein rotes Kleid mit Blumenmuster, das ihre schwarzen Haare
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