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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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Toliver sein würde, die dieses Familienanwesen bewohnte? Höchstwahrscheinlich nicht. Das wäre zu viel verlangt von dem Mädchen …
    »Miss Mary, führen Sie wieder mal Selbstgespräche?«
    »Wie bitte?« Mary blinzelte die vor ihr stehende Haushälterin erschrocken an.
    »Selbstgespräche. Und wo ist Ihre Perlenkette? Als Sie gegangen sind, hatten Sie sie noch an.«
    Marys Finger wanderten zu ihrem Hals. »Ach, die habe ich für Rachel weggelegt …«
    »Für Rachel? So, so. Und nun kommen Sie endlich rein ins Kühle.«
    »Sassie! « Unvermittelt wich die Vergangenheit der glasklaren Gegenwart. Niemand sagte ihr, was sie zu tun oder zu lassen hatte, nicht einmal Sassie, die praktisch zur Familie gehörte. Mary deutete mit dem Gehstock auf die Haushälterin. »Ich gehe rein, wann ich will. Fangen Sie schon mal mit Henry an. Mir können Sie einen Teller richten und warm stellen.«
    Marys rüden Tonfall ignorierend, fragte Sassie: »Und wie wär’s jetzt mit einem Eistee?«
    »Kein Eistee, Sassie. Lieber ein Gläschen von dem Taittinger im Kühlschrank. Bitten Sie Henry, die Flasche zu öffnen. Er weiß, wie das geht. Ach was, bringen Sie gleich die ganze Flasche und dazu einen Kühler.«
    Sassie sah sie mit großen Augen an. »Champagner? In dieser Hitze? Miss Mary, Sie trinken doch sonst nie Alkohol.«
    »Heute schon. Nun machen Sie, was ich sage, bevor Henry verhungert. Im Wagen hat sein Magen geknurrt wie ein Tiger im Käfig.«
    Sassie schüttelte ihr graues Haupt, ging ins Haus und kehrte mit Flasche und Kühler zurück, die sie mit einem lauten Knall auf dem Tisch neben Mary abstellte. »Recht so?«
    »Ja, wunderbar«, antwortete Mary. »Danke, Sassie.« Sie betrachtete ihre Haushälterin mit tiefer Zuneigung. »Hab ich Ihnen eigentlich jemals gesagt, wie viel Sie mir bedeuten?«
    »Nicht, dass ich wüsste«, antwortete die Haushälterin. »Aber egal. Jedenfalls sehe ich bald wieder nach Ihnen. Also passen Sie mal lieber auf, was Sie vor sich hinreden, wenn Sie nicht wollen, dass irgendwelche Geheimnisse rauskommen.«
    »Ich werde bei meinen Selbstgesprächen sehr vorsichtig sein, das verspreche ich, Sassie. Noch etwas, Sassie: Ist es Henry gelungen, den Deckel von Mister Ollies Koffer zu öffnen?«
    »Ja.«
    »Gut.« Mary nickte zufrieden.
    Als Sassie weg war, füllte Mary das Glas und hob es an die Lippen. Seit ihrer Teenagerzeit hatte sie nie etwas Stärkeres getrunken als ein paar Schlucke Champagner an Silvester, weil sie wusste, was der Alkohol mit ihr anstellte. Er besaß die Macht, sie an Orte und in Zeiten zurückzuführen, die sie schon ihr ganzes Leben lang vergessen wollte. Doch jetzt sehnte sie sich dorthin. Dies war ihre letzte Gelegenheit, in die Vergangenheit zurückzukehren. Sie nippte noch einmal und wartete auf das Eintreffen ihres Zauberteppichs. Und nach einer Weile spürte sie tatsächlich, wie er sie forttrug.

MARYS GESCHICHTE

FÜNF
    Howbutker, Texas, Juli 1916
     
    D ie sechzehnjährige Mary Toliver saß mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in der tristen Atmosphäre von Emmitt Waithes Anwaltskanzlei. Der Geruch von Leder und Tabak und alten Büchern erinnerte sie an das mit einem schwarzen Band an der Tür verschlossene Arbeitszimmer ihres Vaters zu Hause. Tränen traten ihr in die Augen; sie senkte den Kopf, bis dieser Moment der Trauer vorüber war. Miles legte tröstend die Hand auf die ihre. Auf der anderen Seite ihres Bruders stöhnte Darla Toliver, deren Gesicht ein Schleier verhüllte, verärgert: »Wenn Emmitt nicht bald kommt, schicke ich Mary nach Hause. Die Beerdigung und dann noch das hier – das wird allmählich zu viel. Emmitt weiß doch, wie nahe Mary und ihr Vater sich standen. Wo bleibt er bloß? Mary kann den Inhalt des Testaments auch in ein paar Tagen erfahren, wenn sie sich wieder halbwegs gefangen hat.«
    »Vielleicht müssen bei solchen Gelegenheiten alle Vermächtnisnehmer anwesend sein«, erwiderte Miles in der gestelzten Ausdrucksweise, die er sich im College zugelegt hatte.
    »Unsinn«, sagte Darla. »Wir sind hierin Howbutker, nicht in Princeton, mein Lieber, und Mary wird nur einen kleinen Teil des väterlichen Vermögens erben. Es besteht also nicht die geringste Notwendigkeit für ihre Anwesenheit.«
    Mary hörte nur mit halbem Ohr zu. Seit dem Tod ihres Vaters war sie den beiden emotional so fern, dass sie oft über sie sprachen, als wäre sie gar nicht da.
    Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie ihren Vater
nie wiedersehen würde. Der Krebs

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