Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Frau, also Matts Großmutter, konnte sie an ihm nichts entdecken als die hellbraunen Haare und die strahlend blauen Augen. »Wie geht’s Lucy?«, erkundigte sie sich.
Matt verzog den Mund zu einem verblüfften Grinsen, das Mary an seinen Großvater erinnerte. »Ach, sie ist wie immer unzufrieden. Ich hab sie gerade in Atlanta besucht. Soll ich ihr einen schönen Gruß ausrichten?«
Mary hob abwehrend die Hand. »Um Himmels willen, nein! Dann kriegt sie am Ende noch einen Herzinfarkt.«
Matt gluckste. »Wahrscheinlich werde ich nie erfahren, warum ihr euch nicht leiden könnt.«
Du dürftest bereits eine ziemlich gute Ahnung haben, warum , dachte Mary belustigt und fragte sich, ob Matt Percy wohl erzählen würde, was er zufällig belauscht hatte. Eher nicht. Er würde keine schlafenden Hunde wecken, um seinen Großvater nicht in Verlegenheit zu bringen. Es war ja auch alles schon so lange her.
»Sie werden meine Neugierde also nicht stillen«, stellte Matt fest. »Ich würde mich gern noch ein bisschen über Rachel unterhalten. Wann können wir auf ihren nächsten Besuch hoffen?«
»In zwei oder drei Wochen, denke ich«, meinte Mary, den Blick auf ihre Limousine gerichtet, die gerade heranfuhr. Sie war weiß, ziemlich alt und in bestem Zustand, genau, wie sie sich selbst noch bis vor Kurzem gewähnt hatte. »Da ist Henry. Auf Wiedersehen, Matt.«
Als sie ihn durch die Gläser ihrer Sonnenbrille hindurch betrachtete, schnürte sich ihr die Kehle zu. Matt war ein
anständiger Junge. Mary wusste noch gut, wie er und seine Mutter Claudia, Percys Schwiegertochter, nach Warwick Hall gekommen waren. Der damals erst ein paar Monate alte Matt hatte sie gleich an seinen Namenspatron Matthew erinnert und war zu ihrem kleinen Sonnenschein nach dem großen Regen geworden. Marys Herz krampfte sich zusammen. »Matt …«, begann sie und brachte zu ihrem Entsetzen kein weiteres Wort heraus.
»Was ist?«, erkundigte sich Matt und drückte sie an sich. »Warum weinen Sie denn? Dazu sind Sie doch viel zu hübsch.«
Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Und du trägst ein zu hübsches Sakko, als dass ich mich an deiner Schulter ausweinen sollte«, erwiderte sie und tupfte damit den feuchten Fleck von seinem Revers. »Tut mir leid, Matt. Keine Ahnung, was über mich gekommen ist.«
»Erinnerungen haben manchmal eine solche Wirkung«, erklärte er mit sanftem, wissendem Gesichtsausdruck. »Sollen Großvater und ich so gegen sechs auf einen Drink vorbeikommen? Sie haben ihm im vergangenen Monat gefehlt … sogar sehr.«
»Nur, wenn du versprichst, kein Wort über … mein Benehmen … verlauten zu lassen.«
»Was für ein Benehmen?«
Nun gesellte Henry sich zu ihnen. »Sassie hat Schinken, Augenbohnen, Grünkohl und geröstetes Maisbrot zu Mittag gekocht«, teilte er Matt mit. »Das bringt Sie wieder auf die Beine.«
»Klingt gut«, sagte Matt, doch Mary bemerkte den zweifelnden Blick, den er mit Henry wechselte. Bevor er die Autotür schloss, beugte er sich noch einmal zu ihr hinein, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. »Bis heute Abend, Miss Mary, ja?«
Sie tätschelte seine Hand. »In Ordnung.«
Aber natürlich war nichts in Ordnung. Sie würde sich eine Ausrede einfallen lassen und Sassie bitten, in Warwick Hall anzurufen. Nachdem sie sich einen Monat lang nicht gesehen hatten, würde Percy sich schrecklich über diese Absage aufregen, aber sie war einfach nicht in der Verfassung, ihn zu empfangen. Sie benötigte ihre ganze emotionale und körperliche Kraft für ihr Treffen mit Rachel am folgenden Tag und musste außerdem noch die Sache im Speicher erledigen. »Henry«, sagte sie und schob die Brille hoch, um die letzten Tränen wegzuwischen, »könnten Sie etwas für mich machen, wenn wir zu Hause sind?«
Henry sah sie traurig im Rückspiegel an. »Vor dem Essen, Miss Mary?«
»Ja, vorher. Gehen Sie rauf in den Speicher und öffnen Sie den alten Militärkoffer von Mister Ollie aus dem Ersten Weltkrieg für mich. Lassen Sie sich von Sassie die Schlüssel dafür geben. Sie sind in der obersten Schreibtischschublade. Das dauert nicht lang. Danach können Sie was essen.«
Henrys Augen verengten sich. »Miss Mary, alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich habe jedenfalls meine fünf Sinne beisammen, falls Sie das meinen, Henry.«
»Ja, Ma’am«, sagte er in zweifelndem Tonfall.
Ihre Tränen waren getrocknet, als sie in die breite, von Baumkronen beschattete Houston Avenue einbogen und die großen
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