Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
hatte ihn so schnell dahingerafft, dass sie sich nicht an den Gedanken seines Todes gewöhnen konnte. Der Verlust ihres Großvaters fünf Jahre zuvor war schon schlimm genug gewesen, aber Opa Thomas hatte immerhin ein Alter von einundsiebzig Jahren erreicht. Ihr Vater hingegen war lediglich einundfünfzig geworden. Mary hatte sich die halbe Nacht herumgewälzt und überlegt, was nun aus ihnen werden würde. Und aus der Plantage? Miles, der eine Geschichtsprofessur am College anstrebte, hatte kein Interesse daran, das war allgemein bekannt.
Ihre Mutter hatte sich nie viel aus Somerset gemacht und wusste nur wenig über die Verwaltung der Plantage.
Darla interessierte sich letztlich nur für ihre Stellung als Ehefrau von Vernon Toliver und Herrin des Hauses an der Houston Avenue. Bisher hatte sie sich nur selten aus dem Ort heraus in Richtung Plantage gewagt, die sich bis fast zum nächsten County erstreckte und zwischen den Städten Dallas und Houston lag, in die Darla gern mit dem Zug zum Einkaufen fuhr und wo sie dann über Nacht blieb.
Viele Jahre waren ins Land gezogen, ohne dass ihre Mutter im Juni die blühenden Baumwollfelder gesehen hätte, deren Farbspektrum von cremig Weiß bis zu weichem Rot reichte. Mary hingegen ließ sich die Blüte nie entgehen. Nun war sie die Einzige, die es faszinierte, wie bis zum August allmählich kleine Samenkapseln entstanden und dann in dem Meer aus Grün plötzlich weiße Flecken aufleuchteten. Welchen Spaß es ihr gemacht hatte zu beobachten, wie diese Flecken sich ausbreiteten, und mit ihrem Vater und Opa Thomas in dem Wissen hinauszureiten, dass diese weiße Weite den Tolivers gehörte!
Das alles wäre vielleicht schon bald dahin. Im Morgengrauen war ihr ein schrecklicher Gedanke gekommen: Angenommen, ihre Mutter verkaufte die Plantage! Als neue Herrin
von Somerset stünde es ihr frei, damit zu verfahren, wie sie wollte.
Da ging die Tür auf, und Emmitt Waithe, der Anwalt, der seit vielen Jahren die Belange der Tolivers regelte, trat ein und entschuldigte sich für die lange Wartezeit, ohne ihnen dabei in die Augen zu sehen. Sein merkwürdiges Verhalten hatte nicht nur mit der Verzögerung zu tun, das spürte Mary. Emmitt begann, hektisch in seinen Papieren herumzublättern, was bei einem behäbigen Mann wie ihm ungewöhnlich wirkte, und sorgte sich über Gebühr um ihr Wohlbefinden. Durfte er ihnen einen Tee oder Kaffee anbieten? Die Sekretärin könnte auch aus dem Drugstore eine Limonade für Mary holen …
»Emmitt, bitte komm zur Sache«, fiel Darla ihm ins Wort. »Wir sind angeschlagen genug; lass uns nicht länger zappeln.«
Emmitt räusperte sich und sah Darla mit seltsamem Gesichtsausdruck an.
Als Erstes holte er einen Brief aus einem Umschlag. »Dieses … äh … Schreiben hat Vernon kurz vor seinem Tod verfasst. Er wollte, dass ich es euch vorlese, bevor wir uns dem Inhalt des Testaments zuwenden.«
Hinter dem Schleier wurden Darlas Augen feucht. »Natürlich«, sagte sie und legte ihre Hand auf die ihres Sohnes.
Emmitt begann:
Meine liebe Frau und meine lieben Kinder,
ich habe mich nie für einen Feigling gehalten, aber jetzt muss ich feststellen, dass ich nicht den Mut besitze, Euch noch zu Lebzeiten über meinen letzten Willen in Kenntnis zu setzen. Vor seiner Verlesung möchte ich Euch Folgendes versichern: Ich liebe Euch alle aus ganzem Herzen und würde mir wünschen, dass die Umstände eine gerechtere und großzügigere Verteilung meines Vermögens zuließen. Darla, meine geliebte
Ehefrau, bitte versuch, meine Entscheidung nachzuvollziehen. Und Miles, mein Sohn, von Dir kann ich kein Verständnis erwarten, doch Dein Sohn wird eines Tages vielleicht nicht nur begreifen, sondern sogar dankbar sein für das Erbe, das ich Dir hinterlasse und anvertraue, damit Du es für ihn bewahrst.
Mary, ich kann nur hoffen, Dich nicht mit jenem Fluch zu schlagen, der auf den Tolivers liegt, seit die erste Kiefer in Somerset gefällt wurde. Ich bürde Dir große Verantwortung auf und möchte Dich dadurch nicht Deines Glücks berauben.
Euer Euch liebender Ehemann und Vater
Vernon Toliver
»Merkwürdig«, bemerkte Darla, als Emmitt den Brief schweigend zusammenfaltete und zurück in den Umschlag steckte. »Was Vernon wohl mit der ›gerechteren und großzügigeren Verteilung‹ seines Vermögens meinte?«
»Das werden wir gleich wissen«, sagte Miles, dessen schmales Gesicht plötzlich noch schmaler wirkte.
Mary hingegen schwieg. Was meinte ihr Vater mit
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