Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Herrenhäuser passierten, die dort inmitten sanft geschwungener, gepflegter Rasenflächen lagen. »Lassen Sie mich bitte vor dem Haus raus, Henry«, wies Mary ihn an.
Henry bedachte sie mit einem weiteren erstaunten Blick. »Vor dem Haus? Nicht an der Seitentür?«
»Nein, Henry. Und machen Sie sich nicht die Mühe auszusteigen, um mir zu helfen. Das schaffe ich allein.«
»Wenn Sie meinen, Miss Mary. Aber noch eine Frage zu Mister Ollies Militärkoffer. Wie erkenne ich ihn?«
»Es ist das scheußliche grüne Ding ganz hinten an der rechten Wand. Sein Name steht drauf: HAUPTMANN OLLIE DUMONT, US ARMY. Der Deckel ist so lange nicht mehr geöffnet worden, dass Sie wahrscheinlich ein Stemmeisen brauchen.«
»Ja, Ma’am«, sagte Henry und brachte die Limousine vor der Veranda zum Stehen. Mit besorgtem Blick beobachtete er, wie Mary sich vom Rücksitz und die Stufen hinaufquälte. Auf halber Höhe winkte sie ihn weg, aber er wartete, bis sie ganz oben war, bevor er losfuhr. Wenig später öffnete Sassie Zwei, so genannt, weil sie die zweite Sassie war, die als Haushälterin bei den Tolivers arbeitete, die Tür und fragte: »Miss Mary, was machen Sie denn da draußen? Sie wissen doch, dass die Hitze Ihnen nicht guttut.«
»Sie macht mir wirklich nichts aus, Sassie«, antwortete Mary ihr aus einem tiefen weißen Sessel auf der Veranda. »Ich habe Henry gebeten, mich vorn rauszulassen, weil ich wieder mal die Treppe hochgehen und ein Gefühl dafür bekommen wollte, wie es ist, mein Haus durch den Vordereingang zu betreten. Das habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr getan, und noch länger habe ich die Nachbarschaft nicht von hier aus beobachtet.«
»Hier kann man nichts beobachten, außer vielleicht das Gras beim Wachsen. Alle sind drinnen im Kühlen. Das Gras hat sich nicht sonderlich verändert, seit Sie das letzte Mal draußen gesessen sind, Miss Mary. Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt auf solche Ideen? Lunch ist praktisch fertig.«
»Dinner , Sassie«, korrigierte Mary sie. »Seit wann nennen wir hier im Süden unsere Mittagsmahlzeit ›Lunch‹?«
»Seit alle andern es so machen, vermute ich.«
»Die andern können mir gestohlen bleiben. Von jetzt an
werden wir mittags Dinner essen und abends Supper , egal, was der Rest der Welt tut.«
Sassie bedachte ihre Herrin, die Hände in die Hüften gestemmt, mit einem nachsichtigen Blick. »Meinetwegen. Aber jetzt zu Ihrem Dinner . Sind Sie in ungefähr zehn Minuten bereit, wenn Henry vom Speicher runterkommt?«
»Ja«, antwortete Mary. »Haben Sie ihm den Schlüssel zu Mister Ollies Koffer gegeben?«
»Ja. Warum um Himmels willen soll er ihn aufmachen?«
»Weil ich etwas daraus brauche. Nach dem Essen gehe ich selber rauf, um es zu holen.«
»Kann Henry es denn nicht runterbringen?«
»Nein!« , kreischte Mary fast und umklammerte entsetzt die Armlehnen des Sessels. Als sie den besorgten Blick Sassies bemerkte, fügte sie in ruhigerem Tonfall hinzu: »Nur ich weiß, was ich suche. Das muss ich selbst tun.«
»Na schön.« Die schwarze Haushälterin wirkte skeptisch. »Wollen Sie einen Eistee?«
»Nein, danke. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Sassie. Ich weiß, dass ich heute ein bisschen komisch bin, aber es ist schön, mal über die Stränge zu schlagen.«
»Hm«, meinte Sassie. »Ich hol Sie dann, sobald Henry vom Speicher zurück ist.«
Bestimmt, dachte Mary, die Sassies Blick über die Schulter spürte, glauben sie und Henry jetzt, dass ich endgültig den Verstand verliere. Sie sehnte sich nach etwas Kühlem und bedauerte bereits, Sassies Eistee ausgeschlagen zu haben.
Mary sah die Straße hinunter. Das Haus der Tolivers befand sich weit genug oben, um von der Veranda aus einen wunderbaren Ausblick über die Gegend zu ermöglichen. Dafür hatte Marys Ururgroßmutter gesorgt. Wie sehr Mary dieses Haus und diese Straße liebte, in denen sich seit ihrer Kindheit kaum etwas verändert hatte! Die Kutscherhäuschen waren nun Garagen,
und der Rasen wurde nicht mehr mit der Hand bewässert, sondern mittels einer Sprinkleranlage. Auch ein paar der alten Bäume fehlten, aber im Großen und Ganzen hatte sich der Vorkriegscharme der Avenue erhalten, ein kleines Stück alter Süden, der nicht vom Winde verweht worden war.
Würde Rachel je begreifen, wie viel Überwindung es Mary gekostet hatte, ihr diesen Ort zu nehmen? Würde sie erahnen, was es für Mary bedeutet hatte, die letzten Wochen ihres Lebens in dem Wissen zu verbringen, dass sie die letzte
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