Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
geantwortet.
»Dein Großvater besaß keinen engen Bezug zum Land«, hatte Tante Mary erst nach einer Weile gesagt. »Seine Leidenschaft galt Ideologien und Menschen, hauptsächlich den Benachteiligten, und die hat er in Frankreich gefunden.«
Rachel betrachtete gedankenverloren die Briefe in ihrer Hand. Hatte Miles seiner Schwester während jener Jahre in Frankreich geschrieben … und ihr von der Geburt seines Sohnes und dem Tod seiner Frau berichtet? Hatte er Fotos von sich selbst und seiner Familie beigelegt, besonders von seiner Frau, Rachels Großmutter? Rachel wusste so gut wie nichts über Marietta Toliver. Hatten seine Zeilen seinen Kummer darüber, im Testament seines Vaters nicht bedacht worden zu sein, ausgedrückt? Konnte seine Stimme sie noch jetzt, Jahre nach seinem Tod, erreichen und ihr helfen, mit einer ähnlichen Situation umzugehen?
Ein weiteres Mal versenkte Rachel die Hände im Koffer. Was war das? Sie holte ein unhandliches, in dickes Papier eingewickeltes Bündel heraus. Als sie es auspackte, fiel ihr Blick auf einen Ballen cremefarbener gestrickter Streifen um ein Knäuel aus rosafarbenen Satinbändern. Das Ganze sah nach einer begonnenen Decke oder einem Tuch aus, bestimmt nicht von Tante Mary, dachte Rachel, denn die hatte Nadel und Faden immer gehasst.
Rachel packte alles wieder ein und hob den Deckel einer langen, schmalen Schachtel. Wow! In Seidenpapier gehüllt, befand sich darin ein Paar hübscher, offenbar nie getragener Wildlederhandschuhe bester Qualität. Aus einem lugte ein Zettel. Rachel zog ihn heraus und las: Für die Hände, die ich den Rest meines Lebens halten möchte. In Liebe, Percy. Rachel legte die Notiz zurück und schloss den Deckel gerührt. Dann holte sie eine Floristenschachtel heraus und entdeckte darin die getrockneten Reste einer langstieligen Rose mit braunen Blütenblättern, die früher mit ziemlicher Sicherheit weiß gewesen waren. Darunter steckte ein weiterer Zettel: Auf dass die Wunden heilen mögen. Ewig der Deine, Percy.
Nun hatte Rachel ihre Antwort. Diese alten Briefe und Erinnerungsstücke an eine unglückliche Leidenschaft waren es wohl, die Tante Mary hatte entfernen wollen. Rachel würde ihr einen letzten Liebesdienst erweisen und alles vernichten, bevor sie nach Lubbock zurückkehrte. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Verschwitzt und müde beschloss Rachel, den Speicher zu verlassen, und machte auf dem Boden des Koffers Platz, um die Sachen zurückzulegen. Dabei berührte ihre Hand etwas … einen Metallbehälter, vermutete sie.
Sie tastete weiter herum, holte ein dunkelgrünes Lederkästchen heraus, stellte es auf einen Stapel Hutschachteln, zog den Schlüsselring aus dem Schloss des Militärkoffers und öffnete mit dem kleineren der beiden Schlüssel daran das Kästchen. Dann hob sie den Deckel und warf einen Blick hinein. In dem trüben Licht erglänzten helle, kräftige Buchstaben: »Letzter Wille und Testament von Vernon Thomas Toliver«.
EINUNDSECHZIG
D ie sommerliche Abenddämmerung in den osttexanischen Kiefernwäldern hatte William immer schon beeindruckt. Bei Sonnenuntergang legte sich ein perlgrau schimmernder Schleier über die Landschaft, der ewig darauf zu verharren schien.
Als Junge, gerade aus Frankreich gekommen, war er dankbar gewesen für diese lange Helligkeit, denn nach dem Tod seiner Mutter fürchtete er sich plötzlich vor der Dunkelheit. Weil sein Vater das verstand, ließ er immer ein Licht brennen, wenn William schlief. In Howbutker war ihm schnell klar geworden, dass er der groß gewachsenen, gebieterischen Frau, zu der sein Vater ihn geschickt hatte, seine Angst verschweigen musste. Der beleibte, liebenswürdige Mann, den er Onkel Ollie nannte, hätte ihn bestimmt verstanden, aber nicht seine Tante, die Schwächen nur widerwillig duldete.
Hatte er geglaubt.
Am ersten Abend war er lange vor Einbruch der Dunkelheit eingeschlafen und von Onkel Ollie in sein Zimmer getragen worden. Danach hatte er den ganzen Sommer lang die geschlossene Jalousie wieder hochgezogen und war noch im Licht der Dämmerung zu Bett gegangen. Im Herbst, als die Tage kürzer wurden, hatte er gefürchtet, dass seine Tante die Lampe neben seinem Bett ausschalten würde, wenn sie ihm eine Gute Nacht wünschte. Doch zu seiner Überraschung hatte sie ihn mit einem kleinen Lächeln gefragt: »Sollen wir das Licht noch ein bisschen anlassen?«
»Oui, Tante, s’il vous plaît.«
»Schlaf gut. Bis morgen früh.«
Daraus wurde
Weitere Kostenlose Bücher