Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
vorübergehend ändern, doch sie nie wieder lieben? Mary fühlte sich in die Enge getrieben und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was ist, wenn ich mich weigere, diese Schule zu besuchen?«
Miles verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln. »Ich glaube, das möchtest du nicht hören.«
»Sag’s mir trotzdem.«
Ihr Bruder beugte sich vor und fixierte sie mit dem Blick. »Dann verwende ich das Geld von Opa Thomas, um mit Mama nach Boston zu fahren, wo ich ohne Probleme eine Stelle als Lehrer finde. Ich kenne dort eine ganze Reihe begehrter älterer Junggesellen, wohlhabende Geschäftsleute, die keine Minute zögern würden, deiner Mutter den Hof zu machen. Die Chancen für eine baldige Wiederverheiratung stünden gut. Dann …« Er machte eine Geste, die das Haus und alles, wofür es stand, umfasste. »… könnte sie diese unangenehme Sache hier vergessen. Ich habe ein Recht auf mein eigenes Leben, genau wie Mama. Wenn das bedeutet, dass ich meinen Verpflichtungen als Verwalter nicht in der erwarteten Form nachkommen kann, ist es eben so. Außerdem würde ich den Streifen Land am Sabine River verkaufen, um mein Vermögen aufzustocken. Mary, ich schwöre dir, falls du mir in dieser verfahrenen Situation nicht entgegenkommst, mache ich meine Drohungen wahr.«
Als Mary das Ausmaß der Macht klar wurde, die ihr Bruder über sie besaß, löste sie ganz langsam die Arme. Es handelte sich nicht um eine leere Drohung, das wusste sie. Miles hatte sich eine Alternative für ihre Mutter ausgedacht. Lediglich ein schwaches Gefühl der Loyalität Somerset, ihrem Vater und ihr gegenüber hinderte ihn daran, seine Siebensachen zu packen und mit ihrer Mutter nach Boston zu gehen. Auch ohne die Hypothek würde es Somerset schaden, wenn er sie und Len die Plantage allein führen ließe, ohne einen männlichen
Toliver-Spross und dessen Unterschrift. Außerdem würde die Tatsache, dass er ihre Mutter wegbrachte, ein schlechtes Licht auf die Familie werfen; die Leute würden sich den Mund über Vernon Tolivers ungerechte Entscheidung zerreißen. Miles lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob die Fingerspitzen in die Taschen seiner Weste. »Nun?«, fragte er, eine Augenbraue selbstzufrieden gehoben.
So schnell würde Mary nicht kapitulieren. »Den Streifen Land entlang des Sabine River könntest du so oder so verkaufen. Was hält dich davon ab?«
Miles schwieg eine Weile. »Papa wollte, dass ich ihn für meinen Sohn behalte.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Miles, was ist nur mit uns passiert? Wir haben uns doch früher so gut verstanden.«
»Die Plantage ist zwischen uns getreten«, antwortete ihr Bruder und stand auf. »Ein Fluch für jeden, der sie zu sehr liebt, Mary. Das war immer so und wird wohl immer so bleiben. Die Besessenheit von diesem Grund hat einen guten Menschen wie unseren Vater dazu gebracht, seine Frau zu verleugnen und seine Familie zu spalten. Er wusste genau, was er tat. Deshalb hat er Mama um Vergebung gebeten.«
Mary trat mit tränennassen Augen um den Schreibtisch herum. »Miles, ich liebe dich und Mama sehr.«
»Ich weiß, Mary Lamb. Ich sehne mich auch nach der Vergangenheit und meiner kleinen Schwester. Mama geht es bestimmt genauso. Du warst uns sehr wichtig.«
»War ? Jetzt nicht mehr?«
»Nun, du bist leider eine richtige … Toliver geworden.«
»Und das ist schlecht?«
Miles seufzte. »Meine Antwort darauf kennst du. Besonders schlimm wird’s, wenn dich der Fluch ereilt, den Papa in seinem Brief erwähnt hat.«
»Was für ein Fluch?«
»Er bezieht sich auf den Nachwuchs. Keinem der Eigentümer von Somerset war es vergönnt, viele Kinder zu bekommen – oder zu behalten«, erklärte er und nahm einen in Leder gebundenen Band von einem Regal hinter sich. »Das steht alles hier drin, mit Bildern. Ich habe das Buch unter Papas Papieren gefunden. Bis dahin hatte ich nichts von seiner Existenz geahnt. Du?«
»Nein. Papa hat nie etwas davon erwähnt.« Mary las den Titel auf dem alten Einband. Die Tolivers: eine Familiengeschichte ab 1836.
»Papa fürchtete, dass er dich selbst zur Kinderlosigkeit oder deine Nachkommen zu einem kurzen Leben verdammt, wenn er das Land dir vermacht. In den Generationen vor uns gab es nie mehr als einen Toliver-Spross, der die Plantage erben konnte, aber wer weiß? Wir sind noch jung.« Ein spöttischer Ausdruck trat in seine Augen. »Opa Thomas war der einzige überlebende Vertreter seiner Generation, genau wie Papa in der seinen.
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