Die Erbin
wechseln, und nach Jahrzehnten hatte er sich eingeredet, dass er nie dort gelebt hatte. Sein Leben hatte mit sechzehn begonnen; davor war nichts geschehen.
Überhaupt nichts.
An seinem zweiten Morgen in Gefangenschaft, kurz nach dem Frühstück, das aus kaltem Rührei und noch kälterem Weißbrot bestand, wurde Booker Sistrunk aus der Zelle geholt und ohne Hand- und Fußfesseln in das Büro des Sheriffs gebracht. Er ging hinein, während ein Deputy vor der Tür wartete. Ozzie begrüßte ihn herzlich und fragte, ob er frischen Kaffee haben wolle. O ja. Der Sheriff bot ihm auch frische Donuts an. Sistrunk begann sofort zu essen.
»Wenn Sie wollen, sind Sie in zwei Stunden draußen«, sagte Ozzie. Sistrunk hörte zu. »Sie brauchen nur ins Gericht rüber zugehen und sich bei Richter Atlee zu entschuldigen. Dann sind Sie noch vor dem Mittagessen wieder in Memphis.«
»Irgendwie gefällt’s mir hier«, antwortete Sistrunk mit vollem Mund.
»Nein, Booker, Ihnen gefällt das hier.« Ozzie schob ihm die Zeitung aus Memphis hin. Erste Seite, Lokalteil, unterhalb des Knicks, ein Archivfoto unter einer Schlagzeile, die verkündete: SISTRUNKS ANTRAG AUF HAFTPRÜFUNG VON BUNDESGERICHT ABGELEHNT. ANWALT WEITERHIN IN CLANTON HINTER GITTERN. Sistrunk las den Text, wäh rend er den nächsten Donut in Angriff nahm. Ozzie fiel ein leich tes Grinsen auf.
»Neuer Tag, neue Schlagzeile, nicht wahr, Booker? Ist das alles, worum es Ihnen hier geht?«
»Ich kämpfe für meine Mandantin, Sheriff. Gut gegen Böse. Ich bin überrascht, dass Sie das nicht sehen können.«
»Ich sehe alles, und das hier springt mir geradezu ins Gesicht. Sie werden diesen Fall nicht vor Richter Atlee verhandeln. Basta. Mit dem Richter haben Sie es sich verscherzt, und jetzt hat er die Nase voll von Ihnen und Ihrer Dummheit. Sie stehen bei ihm auf der schwarzen Liste, und da kommen Sie nicht mehr runter.«
»Kein Problem, Sheriff. Dann gehe ich eben vor ein Bundesgericht.«
»Ja, klar, Sie können mit irgend so einer Bürgerrechtsscheiße vor ein Bundesgericht ziehen, aber es wird nicht funktionieren. Ich habe mit ein paar Anwälten geredet, Leuten, die oft mit Bundesgerichten zu tun haben, und die sagen alle, dass Sie nur Scheiße labern. Die Richter hier können Sie nicht so einfach schikanieren wie die in Memphis. Hier im nördlichen Bezirk gibt es drei Bundesrichter. Einer war mal Richter an einem Chancery Court, genau wie Atlee. Einer ist ehemaliger Bezirks staatsanwalt, und einer war mal Staatsanwalt. Alle weiß. Alle ziemlich konservativ. Und Sie glauben, Sie können hier einfach so in ein Bundesgericht marschieren, anfangen, mit dieser Rassismus-Scheiße um sich zu werfen, und irgendjemand wird es Ihnen schon abkaufen. Sie sind ein Idiot.«
»Und Sie sind kein Anwalt, Sheriff. Aber trotzdem danke für den juristischen Rat. Bis ich wieder in meiner Zelle sitze, werde ich ihn vergessen haben.«
Ozzie lehnte sich zurück und legte die Füße auf seinen Schreibtisch. Seine Cowboystiefel waren auf Hochglanz poliert. Er starrte frustriert an die Decke. »Sie machen es den Weißen hier ganz schön einfach, Lettie Lang zu hassen. Das wissen Sie, Booker, oder?«
»Sie ist schwarz. Sie haben sie schon gehasst, lange bevor ich in die Stadt gekommen bin.«
»Da irren Sie sich. Ich bin zweimal von den Weißen in diesem County gewählt worden. Die meisten von ihnen sind anständige Leute. Sie werden Lettie eine faire Chance geben, zumindest hätten sie das getan, bevor Sie aufgetaucht sind. Jetzt ist es Schwarz gegen Weiß, und wir werden die Stimmen der Geschworenen nicht bekommen. Sie sind ein Idiot, Booker, das ist Ihnen klar, oder? Ich weiß nicht, was für eine Art Recht Sie da oben in Memphis praktizieren, aber hier unten wird es nicht funktionieren.«
»Danke für den Kaffee und die Donuts. Kann ich jetzt gehen?«
»Ja, bitte gehen Sie.«
Sistrunk stand auf und ging zur Tür, wo er stehen blieb. »Üb rigens, ich bin mir nicht so sicher, ob Ihr Gefängnis bundes rechtlichen Bestimmungen entspricht«, sagte er.
»Verklagen Sie mich.«
»Mir sind eine ganze Menge Verstöße aufgefallen.«
»Es könnte noch schlimmer werden.«
Es war noch nicht zwölf, als Portia wieder in die Kanzlei kam. Sie wartete und unterhielt sich mit Roxy, während Jake mit einem langen Telefonat beschäftigt war, dann ging sie nach oben in sein Büro. Ihre Augen waren gerötet, ihre Hände zitterten, und sie sah aus, als hätte sie seit einer Woche nicht geschlafen. Sie
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