Die Erbin
Mr. Sistrunk, können Sie jetzt gehen.« Es war eher ein Befehl als eine Feststellung.
Sistrunk warf Lettie einen wütenden Blick zu. »Ich habe das Recht, für meine Zeit und meine Auslagen entschädigt zu werden. Außerdem sind da noch die Kredite. Wann kann ich mit dem Geld rechnen?«
»Zu gegebener Zeit«, antwortete Jake.
»Ich will mein Geld jetzt.«
»Sie bekommen es aber nicht jetzt.«
»Dann werde ich klagen.«
»In Ordnung. Ich übernehme die Klageerwiderung.«
»Und ich den Vorsitz«, mischte sich Richter Atlee ein. »Ein Prozessdatum gebe ich Ihnen dann in etwa vier Jahren.«
Portia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Sind wir hier fertig?«, fragte Ozzie. »Falls ja, werde ich Mr. Sistrunk jetzt wohl nach Memphis fahren müssen. Es sieht so aus, als wäre er hier bei uns gestrandet. Außerdem haben Mr. Sistrunk und ich noch einiges zu besprechen.«
»Sie werden von mir hören. Das ist nicht mein letztes Wort gewesen«, schleuderte Sistrunk Lettie entgegen.
»Da bin ich mir sicher«, meinte Jake.
»Bringen Sie ihn weg«, sagte Richter Atlee. »Und zwar so weit weg wie möglich.«
Die Sitzung wurde vertagt.
21
Die Kanzlei Jake Brigance hatte noch nie einen Praktikanten eingestellt. Die anderen Anwälte rund um den Clanton Square boten hin und wieder einen Praktikumsplatz an, in der Regel für Studenten vom örtlichen College, die Jura studieren wollten und einen Job suchten, mit dem sie ihren Lebenslauf aufpeppen konnten. Theoretisch waren Praktikanten kostenlose oder billige Arbeitskräfte, aber Jake hatte mehr schlechte als gute Geschichten gehört. Er war nie versucht gewesen, mit Praktikanten zu arbeiten, bis er Portia Lang kennengelernt hatte. Sie war intelligent, langweilte sich, hatte gerade keine Arbeit und redete ständig davon, Jura studieren zu wollen. Außerdem war sie die mit Abstand vernünftigste Person im ehemaligen Haus der Sappingtons, und ihre Mutter vertraute ihr vorbehaltlos. Da zu kam, dass ihre Mutter auf dem besten Weg war, die reichste Schwarze in ganz Mississipppi zu werden, obwohl Jake inzwischen ernstliche Hindernisse dafür sah.
Er stellte Portia für fünfzig Dollar die Woche ein und gab ihr ein Büro im ersten Stock, außer Reichweite von Roxy, Quince Lundy und ganz besonders Lucien, der bis Thanksgiving jeden Tag in die Kanzlei kam und immer mehr in seine alten Gewohnheiten zurückfiel. Schließlich war es seine Kanzlei, und wenn er eine Zigarre rauchen und überall die Luft verpesten wollte, dann war das eben so. Wenn er spätnachmittags mit einem Glas Bourbon in der Hand im Empfangsbereich herumlaufen und Roxy mit schmutzigen Witzen nerven wollte, dann war das eben so. Wenn er Quince Lundy mit Fragen nach Seth Hubbards Vermögen löchern wollte – wer sollte ihn davon abhalten?
Jake musste immer mehr Zeit dafür aufwenden, zwischen seinen immer zahlreicher werdenden Mitarbeitern zu vermitteln. Bis vor zwei Monaten hatten er und Roxy eine ziemlich langweilige, aber auch produktive Koexistenz geführt. Jetzt gab es Spannungen, manchmal sogar Auseinandersetzungen, aber auch jede Menge Gelächter und Teamarbeit. Im Großen und Ganzen genoss Jake den Trubel, doch ihm graute davor, dass Lucien es mit seiner Rückkehr in die Kanzlei ernst meinte. Einerseits hatte er Lucien sehr gern und schätzte seinen Rat und seine Erfahrung. Andererseits wusste er, dass eine erneute Zusammenarbeit nicht von Dauer sein würde. Jakes Trumpfkarte war eine Bestimmung in der Gesetzgebung von Mississippi, nach der Anwälte, denen man die Lizenz entzogen hatte, vor einer erneuten Zulassung noch einmal die Anwaltsprüfung ablegen mussten. Lucien war dreiundsechzig und stand jeden Tag ab etwa siebzehn Uhr, manchmal auch schon früher, bis spät in die Nacht unter dem Einfluss von Jack Daniel’s. Nie im Leben würde es ein alter Gewohnheitstrinker wie er schaffen, für die Prüfung zu lernen und sie dann auch noch zu bestehen.
An ihrem ersten Tag kam Portia fünf Minuten vor neun, dem vereinbarten Arbeitsbeginn, in die Kanzlei. Sie hatte sich etwas schüchtern bei Jake erkundigt, ob es Vorschriften für die Bürokleidung gebe. Er hatte geantwortet, dass er keine Ahnung habe, was Praktikanten so trügen, aber davon ausgehe, dass Frei zeitkleidung in Ordnung sei. Wenn sie bei Gericht zu tun hätten, sei ein etwas gepflegteres Äußeres anzuraten, aber eigentlich sei es ihm egal. Er rechnete mit Jeans und Laufschuhen, stattdessen kam Portia in einer hübschen Bluse, Rock und
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