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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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anzufangen und sechs Monate lang allein den Stoff für die Prüfung durchzupauken, während er gleichzeitig ver suchte, dem Whiskey abzuschwören.
    »Dann unterstützen Sie mich?«
    »Wie soll ich Sie unterstützen, Lucien? Wenn Sie Ihre Zulassung wiederhaben, was dann? Wollen Sie dieses Büro zurück? Wollen Sie, dass ich als Mädchen für alles in der Kanzlei bleibe? Wird es wieder so sein wie vor acht, neun Jahren?«
    »Ich weiß es nicht, aber wir werden es herausfinden, Jake. Ich bin sicher, wir schaffen das.«
    Jake zuckte mit den Schultern. »Ja, ich unterstütze Sie, und ich werde Ihnen auf jede mögliche Weise helfen.« Und zum zwei ten Mal an diesem Morgen bot Jake einem angehenden Anwalt seine Hilfe an. Wer würde der Nächste sein?
    »Danke.«
    »Und wenn Sie schon da sind, können wir auch gleich über ein paar Personalangelegenheiten sprechen. Roxy hat gekündigt, und Portia wird vorläufig als Sekretärin hier arbeiten. Sie ist allergisch gegen Zigarrenrauch, also gehen Sie bitte nach draußen. Und behalten Sie Ihre Hände bei sich. Sie war sechs Jahre in der Army, kennt sich mit Nahkampf aus und kann auch Karate. Sie hat absolut keine Lust darauf, sich von einem widerlichen alten Weißen betatschen zu lassen. Wenn Sie sie anfassen, schlägt sie Ihnen die Zähne aus und verklagt anschließend mich wegen sexueller Belästigung. Verstanden?«
    »Das hat sie gesagt? Ich schwöre, dass ich nichts gemacht habe!«
    »Es ist lediglich eine Warnung, Lucien, okay? Fassen Sie sie nicht an, erzählen Sie ihr keine schmutzigen Witze, machen Sie keine anzüglichen Bemerkungen, fluchen Sie nicht einmal, wenn sie dabei ist. Und trinken und rauchen Sie nicht in ihrer Nähe. Sie hält sich für eine Anwältin und will eine werden. Behandeln Sie sie wie eine Kollegin.«
    »Ich dachte, wir würden großartig miteinander auskommen.«
    »Vielleicht, aber ich kenne Sie. Benehmen Sie sich anständig.«
    »Ich werde mir Mühe geben.«
    »Geben Sie sich mehr Mühe. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss weiterarbeiten.«
    Als Lucien das Büro verließ, murmelte er gerade so laut, dass Jake es hören konnte: »Aber sie hat wirklich einen knackigen Hintern.«
    »Lucien, lassen Sie das.«
    An einem typischen Freitagnachmittag war es so gut wie unmöglich, einen Richter im Gericht oder einen Anwalt in seiner Kanzlei anzutreffen. Das Wochenende begann früh, während sich alle irgendwie davonschlichen. Jede Menge Fische wurden gefangen. Jede Menge Bier wurde getrunken. Jede Menge juris tische Angelegenheiten mussten bis Montag warten. Und an trüben Freitagnachmittagen im Januar sperrten Anwälte wie Nichtanwälte früh zu und verließen ihre Büros am Clanton Square.
    Richter Atlee saß auf der vorderen Veranda seines Hauses, eingehüllt in eine Steppdecke, als Jake um sechzehn Uhr vorbeikam. Es war windstill, und über der Treppe hing eine Wolke aus Pfeifenrauch. Auf einem Schild am Briefkasten stand der Name des Hauses: Maple Run. Das stattliche Anwesen mit Säulen im georgianischen Stil und schief hängenden Fenster läden erinnerte an die großen Herrenhäuser und war eines der vielen alten Häuser, die es in Clanton und Ford County gab. Zwei Blocks weiter konnte man das Dach von Hocutt House erkennen.
    Reuben Atlee verdiente achtzigtausend Dollar im Jahr als Richter und gab nur einen kleinen Teil davon für den Erhalt des Hauses aus. Seine Frau war vor Jahren gestorben, und angefangen bei den Blumenbeeten über die ramponierten Korbstühle auf der Veranda bis hin zu den zerrissenen Vorhängen an den Fenstern im oberen Stock war unübersehbar, dass dem Haus die weibliche Note fehlte, die es nicht bekam. Der Richter lebte allein. Seine langjährige Haushälterin war inzwischen ebenfalls gestorben, und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach einer Nachfolgerin zu suchen. Jake sah ihn jeden Sonntagmorgen im Gottesdienst, und ihm war aufgefallen, dass die äußere Erscheinung des Richters im Laufe der Jahre immer mehr gelitten hatte. Seine Anzüge waren nicht mehr ganz so sauber wie früher. Seine Hemden nicht mehr ganz so gestärkt. Die Knoten in seinen Krawatten nicht mehr ganz so akkurat. Häufig fiel auf, dass er mal wieder zum Friseur musste. Es wurde immer deutlicher, dass Richter Atlee morgens aus dem Haus ging, ohne dass ihm jemand einen prüfenden Blick zuwarf.
    Atlee war kein großer Trinker, aber nachmittags und vor allem am Freitagnachmittag genehmigte er sich fast immer einen Drink. Ohne nachzufragen,

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