Die Erbin
fahrensführung. Er hasste Zeitverschwendung ebenso wie geschwätzige Anwälte. Kurz nach Abschluss seines Jurastudiums hatte Jake einmal miterlebt, wie ein schlecht vorbereiteter Anwalt, der Richter Atlees Geduld mit einer schwachen Beweisführung strapaziert hatte, von diesem zurechtgewiesen wurde. Als der Anwalt sich zum dritten Mal wiederholte, unterbrach ihn der Richter und fragte: »Halten Sie mich für dumm oder taub?« Der verblüffte Anwalt war so klug, auf eine Antwort zu verzichten, und starrte ihn nur ungläubig an. »Meine Hörgeräte funktionieren einwandfrei, und dumm bin ich auch nicht. Sollten Sie sich noch einmal wiederholen, werde ich zugunsten der anderen Seite entscheiden. Und jetzt machen Sie bitte weiter«, hatte der Richter dann gesagt.
Sind Sie dumm oder taub? In den juristischen Kreisen von Clanton war das zu einer Standardfrage geworden.
Der Bourbon sorgte endlich dafür, dass Jake ein bisschen wär mer wurde. Er nahm sich vor, nichts mehr zu trinken, ein Glas war genug. An einem Freitagnachmittag angeheitert nach Hause zu kommen würde Carla überhaupt nicht gefallen. »Wie abzusehen war, wird es ziemlich viele Zeugenaussagen zu Mr. Hubbards Gesundheitszustand geben«, fuhr er fort. »Er hatte starke Schmerzen und nahm eine Menge Medikamente. Die Gegenseite wird beweisen wollen, dass sein Urteilsvermögen dadurch beeinträchtigt war, daher …«
»Ich verstehe, Jake. Wie viele medizinische Sachverständige können wir der Jury zumuten?«
»Da bin ich mir noch nicht sicher.«
»Wie viele medizinische Fachbegriffe kann eine Jury in dieser Stadt verstehen? Von den zwölf Geschworenen werden höchstens zwei einen College-Abschluss haben, dazu kommen noch zwei, drei Schulabbrecher, und der Rest hat die Highschool beendet.«
»Seth Hubbard hat die Highschool auch abgebrochen«, erinnerte ihn Jake.
»Stimmt, und ich wette, er wurde nie gebeten, widersprüchliche Aussagen medizinischer Sachverständiger einzuschätzen. Jake, ich will darauf hinaus, dass wir die Jury nicht mit zu vielen Expertenmeinungen überfordern dürfen.«
»Verstehe, und wenn ich auf der gegnerischen Seite wäre, würde ich jede Menge Sachverständige in den Zeugenstand rufen, um Zweifel zu säen. Ich würde die Geschworenen verwirren, ihnen einen Grund geben, damit sie glauben, Seth hätte nicht mehr klar denken können. Würden Sie das nicht auch tun?«
»Wir sollten nicht über Prozessstrategie sprechen, wenn kein Anwalt der Gegenseite dabei ist. Sie wissen, dass das gegen die Regeln verstößt.« Er sagte es mit einem Lächeln, aber es war klar, was er meinte.
In ihrem Gespräch entstand eine lange, bedeutungsschwan gere Pause, während sie an den Drinks nippten und die Stille ge nossen. »Sie haben seit sechs Wochen kein Geld mehr bekommen«, sagte der Richter schließlich.
»Ich habe die Unterlagen mitgebracht.«
»Wie viele Stunden?«
»Zweihundertzehn.«
»Das wären dann also über dreißigtausend Dollar?«
»Ja, Sir.«
»Klingt realistisch. Ich weiß, dass Sie sehr hart arbeiten, Jake, und ich habe kein Problem damit, Ihr Honorar zu genehmigen. Aber es gibt da etwas, was mir ein bisschen Sorgen macht, und wenn Sie gestatten, würde ich mich gern in Ihre Angelegen heiten einmischen.«
Nichts, was Jake jetzt sagen konnte, würde verhindern, dass der Richter sich einmischte. Wenn Reuben Atlee einen mochte, hielt er es für geboten, ungefragt Ratschläge zu einem breiten Spektrum von Themen zu erteilen. Außerdem wurde von einem erwartet, dass man sich glücklich schätzte, solchermaßen behandelt zu werden. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, erwiderte Jake, während er sich auf das gefasst machte, was jetzt kommen würde.
Ein Klirren mit den Eiswürfeln, noch ein Schluck und dann: »Jetzt und in der nahen Zukunft werden Sie für Ihre Arbeit gut bezahlt werden, was Ihnen auch niemand neiden wird. Wie Sie schon sagten, dieses Durcheinander wurde von Seth Hubbard angerichtet, und er wusste, dass es so weit kommen würde. So sei es denn. Allerdings habe ich meine Zweifel, ob es klug von Ihnen ist, wenn Sie den Anschein erwecken, plötzlich gut bei Kasse zu sein. Mrs. Lang ist mit ihrer Familie in die Stadt gezogen, in das ehemalige Haus der Sappingtons, was, wie wir beide wissen, nichts Besonderes und nicht ohne Grund immer noch unverkauft ist. Aber es ist eben nicht in Lowtown, sondern auf unserer Seite der Stadt. Deshalb gibt es Kritik. Es macht keinen guten Eindruck. Eine Menge Leute glauben, dass sie
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