Die Erbin
nach der Scheidung von hier geflohen und hatte sich in Memphis niedergelassen. Seine Stiefmutter war nach der Scheidung nach Jackson gezogen. Seth jedoch hatte an seinem Haus und dem umliegenden Land festgehalten, und deshalb musste Herschel immer wieder in den Alb traum seiner Kindheit zurückkehren, wenn er ihn besuchte, was er nur einmal im Jahr tat, zumindest bis der Vater krank wurde. Das Haus war ein einstöckiger Klinkerbau mit Giebeldach und weißen Fensterrahmen, der etwas abseits der Straße im dichten Schatten von Eichen und Ulmen stand. Auf der weiten, offenen Rasenfläche vor dem Haus hatte Herschel als Kind gespielt, natürlich nie mit seinem Vater. Sie hatten nie zusammen Baseballwerfen trainiert, nie andere Kinder zum Kicken oder Footballspielen eingeladen. Als er in die Auffahrt einbog, blickte er über den Rasen und war wieder einmal überrascht, wie klein alles wirkte. Er parkte hinter einem anderen Wagen mit einheimischem Kennzeichen, den er nicht kannte, und betrachtete für einen Moment das Haus.
Er hatte immer damit gerechnet, dass ihm der Tod seines Vaters nichts ausmachen würde. Man wird erwachsen, man lernt, seine Gefühle zu beherrschen, man umarmt seinen Vater nicht, weil er das nicht mag, man schickt keine Briefe oder Geschenke, und wenn er stirbt, weiß man, dass man auch gut ohne ihn zurechtkommt. Ein wenig Trauer bei der Beerdigung, vielleicht ein paar Tränen, doch binnen weniger Tage ist es vorbei, und man wendet sich unbeschadet wieder seinem normalen Leben zu. So sah er die Dinge. Freunde, die ihre Väter alt werden und furchtlos in den Tod hatten gehen sehen, hatten ihn gewarnt. Die Trauer habe sie vollkommen unvorbereitet getroffen. Aber sie hatten auch liebevolle Erinnerungen gehabt.
Herschel empfand nichts; nicht den Verlust, keine Trauer über das Ende eines Kapitels, kein Mitleid mit diesem Mann, der so verzweifelt gewesen war, dass er Selbstmord begangen hatte. Es war tatsächlich so: Er empfand nicht das Geringste für seinen Vater. Außer vielleicht eine Spur Erleichterung darüber, dass der Mann tot war, denn das bedeutete ein Problem weniger in seinem Leben. Möglicherweise.
Er ging zur Eingangstür, die sich öffnete, als er näher kam. Lettie Lang stand im Türrahmen und tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. »Hallo, Mr. Hubbard«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Hallo, Lettie«, erwiderte er und blieb auf der Gummimatte stehen. Wenn er sie besser gekannt hätte, hätte er sie kurz umarmt oder ihr sonst eine Geste des Mitgefühls gezeigt, doch er konnte sich nicht dazu durchringen. Er hatte sie nur drei- oder viermal getroffen und nie besser kennengelernt. Als Haushälterin, die auch noch schwarz war, wurde von ihr erwartet, dass sie sich im Hintergrund hielt.
»Es tut mir so leid«, sagte sie und trat zurück.
»Mir auch.« Herschel folgte ihr nach drinnen, durch das Wohnzimmer in die Küche, wo sie auf eine Kaffeekanne deutete.
»Den habe ich gerade frisch gemacht.«
»Ist das Ihr Auto draußen?«, fragte er.
»Ja, Sir.«
»Warum haben Sie in der Auffahrt geparkt? Sollten Sie nicht neben dem Haus parken, wo Dads Pick-up steht?«
»Entschuldigen Sie, ich habe nicht nachgedacht. Ich werde umparken.«
»Nein, vergessen Sie’s. Schenken Sie mir lieber einen Kaffee ein. Zwei Stück Zucker.«
»Ja, Sir.«
»Wo ist Dads Cadillac?«
Lettie goss geschickt Kaffee in eine Tasse. »Der Sheriff hat ihn mitgenommen. Er soll ihn aber heute noch zurückbringen.«
»Warum hat die Polizei den Wagen mitgenommen?«
»Das müssen Sie die Polizei fragen.«
Herschel zog einen Stuhl vom Tisch weg, setzte sich und nahm seine Tasse in beide Hände. Er trank einen Schluck und runzelte die Stirn. »Wie haben Sie das von Dad erfahren?«
Lettie lehnte sich gegen die Küchentheke und verschränkte die Arme vor der Brust. Er maß sie kurz von oben bis unten. Sie trug die gleiche weiße Kittelschürze wie immer, knielang, ein bisschen knapp um die Taille, wo sie ein paar Pfund zu viel hatte, und sehr knapp um ihre üppige Brust.
Der Blick entging ihr nicht. Diese Blicke entgingen ihr nie. Sie war siebenundvierzig und hatte fünf Kinder geboren, dennoch erntete sie noch hin und wieder solche Blicke, wenn auch normalerweise nicht von Weißen. »Calvin hat mich gestern Abend angerufen«, sagte sie. »Er hat mir erzählt, was passiert ist, und mir aufgetragen, heute Morgen hierherzukommen und auf Sie zu warten.«
»Haben Sie einen Schlüssel?«
»Nein, Sir. Ich hatte nie
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