Die Erbin
Beerdigung ist morgen um vier Uhr, erst eine Trauerfeier, dann die Beisetzung.« Ozzie hielt inne und las den Brief noch einmal. »Klingt ganz schön hart, oder? Seth will, dass seine Familie die ganzen Trauerrituale durchläuft, bevor sie erfährt, dass sie enterbt ist.«
Jake schmunzelte. »Also, ich finde das großartig. Gehst du zur Beerdigung?«
»Nur wenn du auch hingehst.«
»Ich bin dabei.«
Sie blieben einen Moment lang schweigend sitzen und lausch ten auf die Geräusche, die durch die Tür drangen, Stimmen, Telefonklingeln. Beide wussten, dass sie sich wieder an ihre Arbeit machen mussten, aber es gab so viele offene Fragen. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
»Ich würde zu gern wissen, was diese Jungs erlebt haben«, sagte Jake. »Seth und sein Bruder.«
Ozzie schüttelte den Kopf. Er blickte auf das Testament und sagte: »Ancil F. Hubbard. Ich kann ihn für dich ausfindig machen, wenn du willst. Ich brauche nur seinen Namen durch das System zu jagen, um zu sehen, ob er vielleicht vorbestraft ist.«
»Mach das. Danke.«
Nach einer langen, schweren Pause sagte Ozzie: »Jake, ich habe heute Morgen noch einiges zu erledigen.«
Jake sprang auf. »Ich auch. Danke. Ich ruf dich später an.«
4
Von Memphis-Stadtmitte bis nach Ford County war es nur eine Autostunde, doch Herschel Hubbard kam die Fahrt jedes Mal wie eine lange, eintönige Reise vor, die ihn fast einen Tag kostete. Es war ein unliebsamer Ausflug in seine Vergangenheit, den er aus vielerlei Gründen nur machte, wenn es unbedingt notwendig war, also nicht sehr oft. Er war mit achtzehn Jahren von zu Hause ausgezogen, hatte einen Schlussstrich gezogen und sich geschworen, diesen Ort so weit entfernt wie möglich zu meiden. Im Scheidungskrieg seiner Eltern war er ein unschuldiges Opfer gewesen, und als sie sich endlich getrennt hatten, da hatte er sich auf die Seite seiner Mutter geschlagen und war mit ihr geflohen, aus der Stadt und vor dem Vater. Jetzt, achtundzwanzig Jahre später, fiel es ihm schwer zu glauben, dass der Alte wirklich tot war.
Es hatte Versöhnungsbemühungen gegeben, vor allem von Herschels Seite aus, und Seth hatte auch eine Zeit lang mitgemacht und versucht, seinen Sohn und seine Enkel zu ertragen. Doch dann waren eine zweite Frau und eine zweite schlechte Ehe dazwischengekommen und hatten die Dinge verkom pliziert. In den letzten zehn Jahren hatte Seth sich ausschließlich um sein Geschäft gekümmert. Er hatte meistens zum Geburts tag angerufen und alle fünf Jahre eine Weihnachtskarte geschickt, doch damit erschöpften sich seine Bemühungen als Vater. Je mehr er arbeitete, umso mehr sah er auf die berufliche Entwicklung seines Sohnes herab – ein Hauptgrund für die Spannungen zwischen ihnen.
Herschel gehörte eine Studentenkneipe in der Nähe der Uni in Memphis. Was die Kneipe anging, lief alles bestens. Er konnte seine Rechnungen bezahlen und ein bisschen was auf die hohe Kante legen. Wie der Vater litt er unter den Nachwirkungen einer schlimmen Scheidung, die eindeutig zugunsten seiner Ex ausgegangen war – sie hatte die Kinder und praktisch das ganze Vermögen bekommen. Seit vier Jahren musste Herschel bei seiner Mutter in einem alten, baufälligen Haus in der Innenstadt wohnen, zusammen mit einem Haufen Katzen. Hin und wieder nahm seine Mutter zusätzlich einen Penner auf. Auch sie hatte Narben von dem unerfreulichen Zusammenleben mit Seth davongetragen und war, wie man so sagte, etwas neben der Spur.
Als Herschel die Grenze zu Ford County überquerte, sank seine Laune noch mehr. Er fuhr einen kleinen Datsun-Sportwagen, den er gebraucht gekauft hatte, vor allem deshalb, weil sein verblichener Vater japanische Autos und überhaupt alles Japanische hasste. Seth hatte einen Cousin im Zweiten Weltkrieg verloren, in japanischer Gefangenschaft, und sich mit seinen selbstgerechten Vorurteilen bequem eingerichtet.
Herschel suchte einen Lokalsender im Radio und schüttelte den Kopf über die unverschämte Großspurigkeit des Moderators. Es war eine andere Welt, eine Welt, die er vor langer Zeit verlassen hatte und am liebsten für immer vergessen würde. Er bedauerte alle seine Freunde, die immer noch in Ford County lebten und nie von hier weggehen würden. Zwei Drittel seines Highschool-Jahrgangs wohnten noch in der Gegend, arbeiteten in Fabriken, fuhren Lkw oder sägten Industrieholz. Das zehnjährige Jahrgangstreffen hatte ihn so deprimiert, dass er zum zwanzigjährigen nicht gegangen war.
Herschels Mutter war
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