Die Erbin
»Zunächst einmal untersucht er die Demografie des County und analysiert sie vor dem Hintergrund des Falls, um den Modellgeschworenen zu bilden. Dann führt er eine Telefonbefragung durch, bei der er Oberbegriffe, aber ähnliche Fakten verwendet, um damit die Reaktion der Öffentlichkeit zu beurteilen. Wenn wir die Namen der Geschworenen im Pool haben, führt er Hintergrundrecherchen zu sämtlichen potenziellen Ge schworenen durch, mit gebührendem Abstand natürlich. Wenn der Auswahlprozess beginnt, wird er mit im Gerichtssaal sein, um den Pool zu beobachten. Diese Jungs sind ziemlich gut darin, Körpersprache und solche Dinge zu lesen. Und wenn der Prozess beginnt, sitzt er jeden Tag im Gerichtssaal, um die Geschworenen zu lesen. Er wird wissen, welchen Zeugen geglaubt wird, welchen man nicht glaubt, und zu welchem Urteil die Jury tendiert.«
»Das ist eine ganze Menge. Wie viel kostet er?«
Jake biss die Zähne zusammen und erwiderte: »Fünfzigtausend Dollar.«
»Nein.«
»Sir?«
»Nein. Ich werde Ausgaben dieser Art nicht genehmigen. Das kommt mir wie Verschwendung vor.«
»Das ist bei großen Geschworenenprozessen heutzutage prak tisch Standard.«
»Ich halte ein solches Honorar für unzumutbar. Es ist Auf gabe des Anwalts, die Jury zusammenzustellen, nicht die irgend eines hochtrabenden Beraters. Zu meiner Zeit habe ich an der Herausforderung, die Gedanken und Körpersprache potenziel ler Geschworener zu lesen, großen Gefallen gefunden und immer die richtigen ausgesucht. Ich hatte ein richtiges Talent dafür, wenn ich das mal so sagen darf.«
Ja, Sir. Wie in dem Fall des einäugigen Predigers.
Seinerzeit, vor etwa dreißig Jahren, wurde der junge Reuben Atlee von der First United Methodist Church in Clanton be auftragt, die Kirchengemeinde bei einer Klage zu vertreten, Diese war von einem Prediger der Pfingstbewegung angestrengt worden, der sich in der Stadt aufhielt, um die Anhänger der Bewegung bei der jährlichen Herbsterweckung anzufeuern. Zum Programm des Predigers gehörte es, große Kirchengemeinden in der Stadt zu besuchen und auf den Treppenstufen vor deren Eingang böse Geister auszutreiben. Er und eine Handvoll seiner fanatischen Anhänger behaupteten, dass diese älteren, gesetzteren Gemeinden das Wortes Gottes falsch darstellten, Abtrünnige versöhnlich stimmten und als Zufluchtsort für angebliche Christen dienten, die bestenfalls kleingläubig seien. Gott habe ihm befohlen, diese Ketzer auf ihrem eigenen Terrain herauszufordern, und so fanden er und seine kleine Clique sich während der Erweckungswoche jeden Nachmittag vor den verschiedenen Kirchen zu Gebeten und Tiraden zusammen. Von den Methodisten, Presbyterianern, Baptisten und Episkopalen wurden sie größtenteils ignoriert. Vor der Kirche der Methodisten verlor der Pfingstler, während er voller Inbrunst betete und die Augen fest geschlossen hatte, das Gleichgewicht und stürzte acht Stufen einer Marmortreppe hinunter. Er wurde schwer verletzt und erlitt einen Hirnschaden. Er verlor sein rechtes Auge. Ein Jahr später (1957) verklagte er die Kirchengemeinde wegen Fahrlässigkeit. Er forderte fünfzigtausend Dollar.
Reuben Atlee war erbost über die Klage und übernahm es, die Kirchengemeinde zu verteidigen, ohne dafür ein Honorar zu verlangen. Er war ein Mann des Glaubens und sah es als seine christliche Pflicht an, ein legitimes Gotteshaus gegen eine derart infame Forderung zu verteidigen. Während der Geschwo renenauswahl sagte er voller Arroganz zum Richter: »Geben Sie mir die ersten zwölf.«
Der Anwalt des Predigers war so klug einzuwilligen. Die ersten zwölf Geschworenen wurden vereidigt und in die Geschworenenbank gesetzt. Der Anwalt erbrachte den Beweis, dass die Treppe der Kirche in schlechtem Zustand und seit Jahren ver nachlässigt worden war. Es habe bereits Beschwerden gege ben und so weiter. Reuben Atlee stolzierte durch den Gerichtssaal, arrogant, wütend und entrüstet darüber, dass diese Klage überhaupt angestrengt worden war. Nach zwei Tagen sprachen die Geschworenen dem Prediger vierzigtausend Dollar zu, ein Rekord für Ford County. Es war ein schwerer Rüffel für Anwalt Atlee, der noch jahrelang mit der Geschichte aufgezogen wurde, bis er selbst zum Richter gewählt wurde.
Später kam heraus, dass fünf der ersten zwölf Geschworenen ebenfalls der Pfingstvereinigung angehörten, die dafür bekannt war, zu ihresgleichen zu halten und schnell beleidigt zu sein. Dreißig Jahre später murmelten
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