Die Erbin
Kirche gewesen, diese reiche Quelle für Klatsch und Tratsch blieb ihnen also verschlossen. In der Ladung stand nichts über die Art des Geschworenendiensts. Nevin hatte weder von Seth Hubbard noch von Lettie Lang je gehört. Der Name Jake Brigance sagte ihm etwas, aber nur weil Jake aus Karaway war und der Hailey-Prozess solches Aufsehen erregt hatte.
Kurz gesagt, Nevin war der ideale Geschworene: hinreichend intelligent, fair und nicht informiert. Die Ladung steckte zusam mengefaltet in seiner Jackentasche. Er wanderte ein paar Minuten auf dem Clanton Square herum, um die Zeit totzuschlagen, und schlenderte dann zum Gericht, wo es zunehmend lebhafter zuging. Er stieg die Treppe hinauf und schloss sich der Menge an, die sich um die großen Eichentüren des Hauptsitzungssaals drängte. Zwei Polizeibeamte in Uniform standen mit Klemmbrettern bereit. Als Nevin die Kontrolle durchlaufen hatte und in den Saal kam, schickte ihn eine freundlich lächelnde Justizangestellte auf einen Platz auf der linken Seite. Er ließ sich neben einer attraktiven Dame in einem kurzen Rock nieder, die ihm schon nach zwei Minuten erzählt hatte, dass sie an derselben Schule unterrichte wie Clara Brigance und wahrscheinlich aussortiert werde. Als er ihr gestand, dass er nichts über den Fall wisse, konnte sie das kaum glauben. Alle Geschworenen tuschelten untereinander und beobachteten, wie die Anwälte mit wich tiger Miene im Saal herumstolzierten. Der Richtertisch war nicht besetzt. Ein halbes Dutzend Justizbeamte hantierte mit Papieren, ohne viel zu tun, um ihre Anwesenheit im größten Erbschaftsstreit in der Geschichte von Ford County zu rechtfertigen. Manche Anwälte hatten gar keine Verbindung zu dem Verfahren, keinerlei Grund, dabei zu sein, aber ein Sitzungssaal voller potenzieller Geschworener zog immer ein paar Stammkunden an.
Da war zum Beispiel ein Anwalt namens Chuck Rea, der we der Mandanten noch eine Kanzlei noch Geld hatte. Gelegentlich überprüfte er ein paar Einträge im Grundstücksregister, daher trieb er sich ständig im Gericht herum, schlug jede Menge Zeit tot, schnorrte Kaffee, wo immer welcher frisch gekocht worden war, flirtete mit den Justizangestellten, die ihn gut kann ten, tratschte mit jedem Anwalt, der in Hörweite kam, und war ganz allgemein einfach nur da. Chuck ließ sich nur selten eine Verhandlung entgehen. Da er selbst keine Prozesse führte, sah er sich alle anderen an. An diesem Tag trug er seinen dunkelsten Anzug und hatte seine Lederhalbschuhe frisch poliert. Er redete mit Jake und Harry Rex – die ihn nur allzu gut kannten – und den Anwälten von außerhalb, die längst begriffen hatten, dass Chuck sozusagen zum Inventar gehörte. Solche Leute gab es an jedem Gericht.
Ein Mann links von Nevin fing ein Gespräch an. Er sagte, er habe eine Firma für Zäune in Clanton und einmal einen Maschendrahtzaun für Harry Rex Vonners Jagdhunde gebaut.
»Das ist der Dicke da in dem schlecht sitzenden Anzug«, sagte er und deutete mit dem Finger. »Harry Rex Vonner. Der gewiefteste Scheidungsanwalt im County.«
»Arbeitet er mit Jake Brigance zusammen?«, fragte Nevin, der keinen blassen Schimmer hatte.
»Sieht so aus.«
»Wer sind die anderen Anwälte?«
»Keine Ahnung. Heutzutage gibt es so viele Anwälte. Am Clanton Square wimmelt es nur so von Kanzleien.«
Ein Gerichtsdiener erwachte zum Leben. »Bitte erheben Sie sich!«, brüllte er. »Der Chancery Court des Fünfundzwanzigsten Gerichtsbezirks von Mississippi unter Vorsitz von Richter Reuben V. Atlee.«
Richter Atlee erschien aus einem Raum hinter dem Saal und nahm am Richtertisch Platz, während die Menge aufsprang. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er.
Das Publikum ließ sich mit viel Lärm wieder auf die Bänke plumpsen. Er begrüßte alle, wünschte einen guten Morgen und bedankte sich bei den Geschworenenkandidaten, dass sie gekommen seien – als hätten sie die Wahl gehabt. Er erklärte, erster Punkt der Tagesordnung sei die Auswahl der Geschworenen, zwölf und zwei Ersatzleute, die wohl den ganzen Tag dauern werde. Manchmal werde man nur langsam vorankommen, wie es bei Gericht häufig der Fall sei, und er bitte sie um Geduld. Eine Justizangestellte habe die Namen auf Zettel geschrieben. Er werde diese nun nach dem Zufallsprinzip aus einem Plastikbehälter ziehen und so die anfängliche Sitzordnung vorgeben. Sobald die ersten fünfzig ausgewählt seien, würden die anderen für den Rest des Tages entlassen und im Bedarfsfall morgen
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