Die Erbin
die Geschäfte liefen. Seth riss einen Witz über die enttäuschende Hurrikansaison. Mehr Hurrikane bedeuteten mehr Sachschäden und eine größere Nachfrage nach Holz. Seth hatte behauptet, er liebe Hurrikane. Mr. Walker schilderte seinen Freund als geistesgegenwärtig, witzig und offenbar schmerzfrei. Natürlich war er gebrechlich. Als Mr. Walker später erfuhr, dass Seth tot war und sich nicht lange nach ihrem Gespräch das Leben genommen hatte, war er wie vor den Kopf geschlagen. Seth hatte so gelassen und entspannt, geradezu zufrieden gewirkt. Mr. Walker hatte ihn seit vielen Jahren gekannt, und er war nie gesellig gewesen. Seth Hubbard war ein ruhiger Mensch gewesen, der am liebsten für sich blieb und wenig redete. Er erinnerte sich, dass Seth gelächelt hatte, als er an jenem Sonntag davonfuhr, und dass er zu seiner Frau gesagt hatte, man sehe ihn nur selten lächeln.
Mrs. Gilda Chatham erklärte den Geschworenen, sie und ihr Mann hätten bei Seths letzter Predigt hinter ihm gesessen, nach dem Gottesdienst kurz mit ihm gesprochen und nichts davon gemerkt, dass er eine so furchtbare Tat plante. Mrs. Nettie Vinson sagte aus, sie habe Seth kurz begrüßt, als sie aus der Kirche gekommen seien, und er sei ihr ungewöhnlich freundlich erschienen.
Nach einer kurzen Pause wurde Seths Onkologe, ein Dr. Talbert vom regionalen Ärztezentrum in Tupelo, beeidigt, der den ganzen Saal mit einer langen, trockenen Schilderung der Lungenkrebserkrankung seines Patienten langweilte. Er hatte Seth fast ein Jahr lang behandelt und schilderte, auf seine Notizen gestützt, endlos lang die Operation und die darauffolgende Chemotherapie, Bestrahlung und medikamentöse Behand lung. Es hatte von Anfang an kaum Hoffnung bestanden, aber Seth hatte tapfer gekämpft. Als sich der Krebs auf Wirbelsäule und Rippen ausbreitete, wussten sie, dass das Ende nicht mehr fern war. Dr. Talbert hatte Seth zwei Wochen vor seinem Tod gesehen und war überrascht, wie entschlossen er durchhielt. Aber die Schmerzen waren heftig. Er erhöhte die orale Dosis Demerol auf einhundert Milligramm alle drei bis vier Stunden. Seth nahm nur ungern Demerol, weil ihn das Medikament oft müde machte. Tatsächlich sagte er mehr als einmal, er versuche, jeden Tag ohne Schmerzmittel zu überstehen. Dr. Talbert wusste nicht, wie viele Tabletten Seth tatsächlich genommen hatte. In den letzten beiden Monaten hatte er zweihundert verschrieben.
Jake rief den Arzt aus zwei Gründen in den Zeugenstand. Zum einen wollte er die Tatsache festhalten, dass Seth den Kampf gegen den Lungenkrebs endgültig verloren hatte. In diesem Licht würde der Selbstmord hoffentlich nicht so drastisch und unvernünftig scheinen. Später wollte Jake damit argumentieren, dass Seth in seinen letzten Tagen durchaus klar gedacht hatte, auch wenn er diesen Tod gewählt hatte. Der Schmerz war un erträglich gewesen, das Ende hatte unmittelbar bevorgestan den, er hatte die Dinge nur beschleunigt. Zweitens wollte er das Thema der Nebenwirkungen von Demerol direkt angehen. Lanier hatte eine wirkungsvolle Zeugenaussage in petto: Ein Experte würde aussagen, dass das starke Medikament in der verschriebenen Menge Seths Urteilsvermögen ernsthaft beeinträchtigt hätte.
Merkwürdig an der Sache war, dass die letzte Verordnung nie gefunden wurde. Seth hatte das Rezept sechs Tage vor seinem Tod in einer Apotheke in Tupelo eingelöst und das Medikament dann offenbar entsorgt. Daher ließ sich nicht nachweisen, wie viel oder wie wenig er tatsächlich eingenommen hatte. Auf seine ausdrückliche Anweisung war er ohne Autop sie bestattet worden. Monate zuvor hatte Wade Lanier in offiziell vorgeschlagen, die Leiche für eine toxikologische Untersuchung zu exhumieren. Richter Atlee hatte das ebenso inoffiziell abgelehnt. Der Opiatgehalt von Seths Blut am Tag seines Todes war nicht automatisch relevant für den Gehalt am Tag zuvor, als er das Testament verfasst hatte. Richter Atlee schien besonderen Anstoß an der Vorstellung zu nehmen, einen Menschen wieder auszugraben, der ordentlich beigesetzt worden war.
Jake war mit seiner Befragung von Dr. Talbert zufrieden. Sie hatten eindeutig festgestellt, dass Seth versucht hatte, die Einnahme von Demerol zu vermeiden, und dass sich schlicht nicht nachweisen ließ, wie viel davon in seinem Körper vorhanden war, als er das Testament verfasste.
Wade Lanier brachte den Arzt dazu einzugestehen, dass ein Patient, der sechs- bis achtmal täglich einhundert Milligramm Demerol
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