Die Erbin
Lettie, Portia, den anderen Anwälten oder überhaupt jemandem, der das Gemetzel miterlebt hatte, über den Weg zu laufen.
Harry Rex musste immer gegen den Strom schwimmen. Wenn ein Prozesstag reibungslos lief, verbreitete er unweigerlich schwärzesten Pessimismus. Ein schlechter Tag, und schon blickte er unglaublich optimistisch in den nächsten. Während Jake vor Wut kochend dahinfuhr, wartete er darauf, dass sein Mitstreiter eine Bemerkung machte, die ihn zumindest vor übergehend aufmunterte.
»Du kommst besser von deinem hohen Ross runter und einigst dich mit dem Mistkerl«, bekam er stattdessen zu hören.
Es dauerte fast zwei Kilometer, bis Jake antwortete. »Wieso glaubst du, dass Wade Lanier mit mir über einen Vergleich reden will? Er hat den Prozess soeben gewonnen. Die Geschworenen würden ihr keine fünfzig Dollar für eine Tüte Lebensmittel geben. Du hast ihre Gesichter gesehen.«
»Weißt du, was wirklich schlimm daran ist, Jake?«
»Es ist alles schlimm. Schlimmer als schlimm.«
»Das Schlimme daran ist, dass man anfängt, alles an Lettie infrage zu stellen. Mir ist nie der Gedanke gekommen, dass sie Seth Hubbard manipuliert haben könnte, damit er sein Testa ment ändert. Sie ist nicht so raffiniert, und er war nicht so dumm. Aber jetzt, wo bekannt ist, dass sie so etwas schon einmal getan hat, fragt man sich, ob nicht ein Muster dahintersteckt. Versteht das alte Mädchen vielleicht mehr von Testamenten und Erbrecht, als wir vermutet haben? Ich habe keine Ahnung, aber es gibt einem schwer zu denken.«
»Und warum versucht sie, es zu vertuschen? Ich wette, sie hat das nicht mal Portia erzählt, bestimmt weiß überhaupt niemand, dass sie bei den Pickerings aufgeflogen ist. Wahrscheinlich hätten wir so schlau sein sollen, sie vor sechs Monaten zu fragen – hören Sie, Lettie, haben Sie schon mal jemanden überredet, sein Testament zu ändern und Ihnen ein hübsches Sümmchen zu hinterlassen?«
»Warum ist dir das nicht früher eingefallen?«
»War wohl dumm von mir. Im Augenblick komme ich mir zumindest ziemlich blöd vor.«
Sie legten einen weiteren Kilometer zurück, dann noch einen. »Du hast recht«, sagte Jake. »Man stellt jetzt alles infrage. Und wenn das bei uns schon so ist, wie wird es dann erst den Ge schworenen gehen?«
»Die Geschworenen kannst du vergessen, Jake, die hast du ein für alle Mal verloren. Du hast deine besten Zeugen aufge boten, dir deinen Star bis zuletzt aufgehoben, sie hat eine gute Leistung gebracht, und dann zerstört ein Überraschungszeuge innerhalb von Minuten deine gesamte Strategie. Diese Jury kannst du abschreiben.«
Sie legten einen weiteren Kilometer zurück. »Ein Überra schungszeuge. Das ist doch mit Sicherheit ein Revisionsgrund.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen. So weit darfst du es nicht kommen lassen, Jake. Du musst einen Vergleich schließen, bevor die Sache den Geschworenen übergeben wird.«
»Dann muss ich mein Mandat als Anwalt niederlegen.«
»Und wenn schon. Du hast ein bisschen Geld verdient, jetzt musst du den Weg frei machen. Denk einen Augenblick an Lettie.«
»Lieber nicht.«
»Das verstehe ich, aber was, wenn sie ohne einen Penny ausgeht?«
»Vielleicht hat sie das verdient.«
Mit durchdrehenden Reifen hielten sie auf dem Kiesparkplatz vor dem Lebensmittelgeschäft der Bates. Der rote Saab war das einzige ausländische Fahrzeug, alle anderen waren Pick-ups, die mindestens zehn Jahre auf dem Buckel hatten. Sie warteten in der Schlange, während Mrs. Bates geduldig Gemüse auf die Teller füllte und Mr. Bates von jedem Kunden 3,50 Dollar kas sierte, gesüßter Eistee und Maisbrot inbegriffen. Die Gäste dräng ten sich praktisch Schulter an Schulter, und alle Stühle waren besetzt.
»Da drüben.« Mr. Bates deutete mit dem Kopf, und Jake und Harry Rex setzten sich an eine kleine Theke, nicht weit von dem großen Gasofen, der mit Töpfen bedeckt war. Sie konnten reden, mussten aber vorsichtig sein.
Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. Kein Mensch, der hier zu Mittag aß, wusste, dass in der Stadt ein Verfahren lief, und ganz bestimmt wusste keiner, wie sich die Dinge gegen Jake gewandt hatten. Auf einem Hocker sitzend und über seinen Teller gebeugt, blickte er verloren durch die Menge hindurch.
»He, du musst was essen«, sagte Harry Rex.
»Keinen Appetit.«
»Kann ich deinen Teller haben?«
»Vielleicht. Ich beneide diese Leute. Die müssen nicht wieder in diesen Gerichtssaal.«
»Ich auch nicht. Du
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