Die Erbin
wunderbaren Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten. Ja, die Scheidung war schmerzlich gewesen, aber die Familie kämpfte sich durch und machte weiter. Er stand seinem Vater zu dessen Lebzeiten sehr nahe. Sie redeten ständig mit einander, besuchten sich so oft wie möglich, aber sie waren natürlich beide sehr beschäftigt. Beide waren große Fans der Atlanta Braves. Sie ließen sich kein Spiel der Mannschaft entgehen und sprachen die ganze Zeit darüber.
Lettie starrte ihn verblüfft an. Sie hatte Seth Hubbard nie ein Wort über die Atlanta Braves sagen hören und nie erlebt, dass er sich ein Baseballspiel im Fernsehen ansah.
Vater und Sohn hatten versucht, es mindestens einmal im Jahr nach Atlanta zu schaffen, um sich ein paar Spiele anzusehen. Wie bitte? Das war Jake ebenso neu wie allen anderen, die Herschels protokollierte Aussagen gelesen hatten. Eine solche Fahrt hatte er nie erwähnt. Aber Jake konnte nicht viel tun. Zu beweisen, dass die Ausflüge nach Atlanta nie stattgefunden hatten, hätte zwei Tage harter Recherchearbeit erfordert. Wenn Herschel Märchen über sich selbst und seinen Vater erfinden wollte, konnte Jake ihn im Augenblick kaum daran hin dern. Außerdem musste er vorsichtig sein. Wenn er überhaupt noch irgendeine Glaubwürdigkeit bei den Geschworenen be saß, konnte er schweren Schaden anrichten, wenn er Herschel attackierte. Der Mann hatte seinen Vater verloren und war auf grausame und demütigende Art und Weise enterbt worden. Es war leicht möglich und nur natürlich, dass die Geschworenen mit ihm fühlten.
Und wie argumentiert man gegenüber einem Sohn, der seinem Vater nicht nahegestanden hat, aber schwört, das sei der Fall gewesen? Gar nicht. Jake wusste, dass er eine solche De batte nicht gewinnen konnte. Er machte sich Notizen, hörte sich die erfundenen Geschichten an und versuchte, ein Pokerface aufzusetzen, als wäre alles in schönster Ordnung. Er konnte sich nicht überwinden, die Geschworenen anzusehen. Zwischen ihm und ihnen stand eine Mauer, für ihn eine völlig neue Erfahrung.
Als sie schließlich auf Seths Krebserkrankung zu sprechen kamen, wurde Herschel trübsinnig und musste sogar die Trä nen unterdrücken. Es sei einfach furchtbar gewesen, sagte er, zu sehen, wie dieser aktive, lebensfrohe Mann durch seine Krankheit praktisch zusammenschrumpfte und vertrocknete. Er hatte so oft versucht, das Rauchen aufzugeben, Vater und Sohn hatten viele lange, intensive Gespräche über das Rauchen geführt. Herschel selbst hatte aufgehört, als er dreißig war, und seinen Vater angefleht, seinem Beispiel zu folgen. In seinen letzten Mo naten hatte Herschel ihn so oft wie möglich besucht. Und ja, sie hatten über seinen Nachlass gesprochen. Seth hatte sich klar zu seinen Absichten geäußert. Er hatte sich Herschel und Ramona gegenüber vielleicht nicht allzu großzügig gezeigt, als diese jünger waren, aber nach seinem Tod sollten sie alles bekommen. Er hatte ihnen versichert, er habe ein richtiges Testament verfasst, das seine Kinder aller finanziellen Sorgen entledigen und die Zukunft ihrer Kinder, Seths geliebter Enkel, absichern werde.
Seth war gegen Ende nicht mehr er selbst gewesen. Sie hatten häufig telefoniert, und Herschel war zuerst aufgefallen, dass das Gedächtnis seines Vaters nachließ. Er hatte sich nicht erinnern können, wie das Baseballspiel vom Vorabend ausgegangen war. Er hatte sich ständig wiederholt. Er hatte endlos über die World Series schwadroniert, obwohl die Braves im vergangenen Jahr gar nicht dabei gewesen waren. Für Seth aber doch. Der alte Mann hatte zusehends den Kontakt zur Realität verloren. Es war herzzerreißend gewesen.
Nicht überraschend, misstraute Herschel Lettie Lang. Sie hatte gute Arbeit geleistet, wenn es darum ging, das Haus sauber zu halten, zu kochen und seinen Vater zu pflegen, aber je länger sie dort arbeitete und je kränker Seth wurde, desto mehr hatte sie sich als Beschützerin aufgespielt. Sie hatte sich verhalten, als wollte sie Herschel und Ramona nicht im Haus haben. Mehrmals hatte Herschel seinen Vater angerufen, aber sie hatte behauptet, er fühle sich nicht wohl und könne nicht ans Telefon kommen. Sie hatte versucht, ihn von seiner Familie fernzuhalten.
Lettie funkelte den Zeugen wütend an und schüttelte den Kopf.
Es war eine gelungene Vorstellung, und als sie endete, war Jake so verblüfft, dass es ihm schwerfiel, zu denken und zu agieren. Durch geschickte und zweifellos gründlichste
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