Die Erbin
haben. Seth Hubbard hatte die Kanzlei Rush in seinem Brief an Jake erwähnt, ebenso in seinem hand schriftlichen Testament, es lag also nahe, dass Stillman Rush und die beiden anderen adrett gekleideten Herren an des sen Seite gekommen waren, um zu sehen, wie sich ihre Wertanlage machte. Üblicherweise wurde in solchen Fällen paarweise gearbeitet, selbst für die simpelsten Aufgaben wurden zwei Leute geschickt: um Schriftsätze beim Gericht einzureichen, den Richter auf den neuesten Stand zu bringen, Anhörungen zu ohnehin unstrittigen Sachberichten beizuwohnen, Boten gänge zu machen. Alles, was Akten und Rechnungen aufblies. Großkanzleien huldigten dieser Form der Ineffizienz begeistert, denn je mehr Stunden abgerechnet wurden, umso höher fiel das Honorar aus.
Aber drei Mann? Bei einer Blitz-Beerdigung irgendwo in der Provinz? Das war ebenso verwunderlich wie aufregend, denn es konnte nur bedeuten, dass sehr viel Geld im Spiel war. Mit Sicherheit hatten die beiden ihre Uhren angeworfen, als sie in Tupelo das Büro verließen. Für zweihundert Dollar pro Mann und Stunde saßen sie jetzt hier und taten so, als trauerten sie. Seths letzten Worten zufolge hatte ein Mr. Lewis McGwyre im September 1987 ein Testament für ihn aufgesetzt, und Jake nahm an, dass er einer von den dreien war. Der Name McGwyre sagte ihm nichts, aber das war nicht verwunderlich, denn die Kanzlei beschäftigte ein ganzes Heer von Anwälten. Nachdem sie das Testament aufgesetzt hatten, gingen sie automatisch davon aus, dass sie es auch eröffnen würden.
Morgen, dachte er, werden sie wiederkommen, zumindest zu zweit, vielleicht auch wieder zu dritt, und werden mit ihren Unterlagen zum Nachlassgericht im dritten Stock gehen, um entweder Eva oder Sara lässig mitzuteilen, dass sie gekommen seien, um die Eröffnung von Mr. Seth Hubbards Testament zu beantragen. Und entweder Eva oder Sara werden dann ein Grinsen unterdrücken, während sie nach außen hin Verwirrung zur Schau stellen. Man wird mit Papier rascheln und ungläubige Fragen stellen und dann – die große Überraschung: Sie sind zu spät gekommen, meine Herren. Das Testament ist bereits eröffnet!
Eva oder Sara werden ihnen die frisch angelegte Akte zeigen, und sie werden auf das kurz gefasste, handschriftliche Testament starren, das ihr seitenlanges, kostbares Exemplar ausdrücklich widerruft. Die Fehde kann beginnen. Sie werden Jake Brigance verfluchen, doch sobald sie sich wieder beruhigt haben, werden sie feststellen, dass alle Beteiligten an der Sache ziemlich gut verdienen können.
Lettie wischte sich eine Träne ab und stellte fest, dass sie wahrscheinlich der einzige Mensch in dieser Kirche war, der weinte.
Vor den Anwälten saßen ein paar Männer in Businessanzügen. Einer davon drehte sich um und flüsterte Stillman Rush etwas zu. Jake überlegte, ob das ein Mitglied von Seths Führungsstab war. Er war vor allem neugierig auf Mr. Russell Amburgh, den Seth in seinem Letzten Willen als Prokuristen seiner Holding beschrieben hatte, der sich mit Vermögenswerten und Verbindlichkeiten der Firma bestens auskenne.
Mrs. Nora Baines sang drei Strophen von »The Old Rugged Cross«, einem sentimentalen Countrysong, der bei Beerdigungen normalerweise garantiert die Tränen fließen ließ. Bei Seth trat die Wirkung nicht ein. Pastor McElwain las aus dem Buch der Psalmen und verweilte länger bei König Salomon und dessen Weisheit, dann traten zwei pickelige Teenagerjungs mit Gitarre auf und gaben ein sentimentales Lied zum Besten, das Seth sicher nicht gefallen hätte. Ramona verlor die Nerven und ließ sich von Ian trösten. Herschel starrte reglos auf den Boden vor dem Sarg, ohne zu zwinkern. Eine zweite Frau schluchzte laut auf.
Seths grausamer Plan war es, seinen Letzten Willen bis nach der Beerdigung geheim zu halten. In seinem Brief an Jake hatte er geschrieben: »Erwähnen Sie das Testament meiner Familie gegenüber nicht, bevor die Beerdigung vorüber ist. Ich will, dass sie alle Trauerrituale durchlaufen, ehe sie erfahren, dass sie nichts bekommen werden. Schauen Sie sich an, wie sie die Trauer heucheln – sie können das gut. Aus Liebe zu mir heulen sie jedenfalls nicht.« Im weiteren Verlauf der Trauerfeier wurde klar, dass wenig geheuchelt wurde. Der klägliche Rest seiner Familie bemühte sich nicht einmal, so zu tun als ob. Was für ein trauriges Ende, dachte Jake.
Seth hatte verfügt, dass keine Reden gehalten werden sollten, und so sprach niemand außer dem
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