Die Erbin
Pastor. Ganz offensichtlich schien sich auch niemand darum zu reißen. Der Pastor schloss mit einem nicht endenden Gebet, vermutlich um Zeit zu schinden. Fünfundzwanzig Minuten nachdem er begonnen hatte, entließ er die Gemeinde mit der Aufforderung, nebenan auf den Friedhof zu kommen, um der Beisetzung beizuwohnen. Jake gelang es, im Hinausgehen Stillman Rush aus dem Weg zu gehen. Statt dessen sprach er einen der Geschäftsmänner an. »Verzeihen Sie, aber ich suche einen gewissen Russell Amburgh.«
Der Mann deutete höflich in eine Richtung. »Dort drüben.«
Russell Amburgh stand drei Meter entfernt und zündete sich eben eine Zigarette an. Er hatte Jake gehört. Die beiden Männer schüttelten einander mit ernster Miene die Hand und stellten sich vor. Jake sagte: »Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«
Mr. Amburgh zuckte leicht die Schultern. »Klar, was gibt’s?«
Die Menschenmenge bewegte sich langsam Richtung Friedhof, doch Jake hatte ohnehin nicht die Absicht, der Zeremonie am Grab beizuwohnen. Als er mit Amburgh außer Hörweite war, sagte er: »Ich bin Anwalt in Clanton. Ich habe Mr. Hubbard nie kennengelernt, aber ich habe gestern einen Brief von ihm bekommen. Einen Brief zusammen mit einem Testament, in dem er Sie als seinen Testamentsvollstrecker bestimmt. Wir müssen uns so bald wie möglich zusammensetzen.«
Amburgh erstarrte kurz und steckte sich dann die Zigarette in seinen Mundwinkel. Er blickte Jake an und sah sich schließlich um, wie um sich zu vergewissern, dass sie ungestört waren. »Was für ein Testament?«, sagte er und blies Rauch aus.
»Ein handschriftliches vom letzten Samstag. Er hat seinen Tod sorgfältig geplant.«
»Dann war er wahrscheinlich nicht mehr ganz zurechnungsfähig«, sagte Amburgh höhnisch – ein erstes Säbelrasseln im bevorstehenden Krieg.
Damit hatte Jake nicht gerechnet. »Nun, ich denke, das wird noch geklärt werden.«
»Ich war auch einmal Anwalt, Mr. Brigance, bevor ich eine ehrliche Arbeit gefunden habe. Ich weiß, wie das Spiel läuft.«
Jake trat gegen einen Kieselstein und sah sich um. Die ersten Trauergäste näherten sich dem Haupteingang zum Friedhof. »Können wir reden?«
»Was steht in dem Testament?«
»Das darf ich Ihnen im Augenblick noch nicht sagen. Erst morgen.«
Amburgh legte den Kopf in den Nacken und blickte ihn über den Nasenrücken hinweg an. »Was wissen Sie über Seths Geschäfte?«
»Gar nichts. Im Testament schreibt er, dass Sie einen guten Überblick über seine Vermögenswerte und Verbindlichkeiten haben.«
Ein Zug an der Zigarette, ein höhnisches Schnauben. »Es gibt keine Verbindlichkeiten, Mr. Brigance. Nur Vermögen, und zwar nicht zu knapp.«
»Bitte, wir sollten uns zusammensetzen und reden. Es wird alles offengelegt werden, Mr. Amburgh, ich will nur sehen, wohin die Reise geht. Nach seinem Letzten Willen sind Sie sein Testamentsvollstrecker und ich sein Anwalt.«
»Das erscheint mir seltsam. Seth hasste die Anwälte von Clanton.«
»Ja, das hat er deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn wir uns morgen treffen, zeige ich Ihnen gern eine Kopie des Testaments, damit Sie die Dinge klarer sehen.«
Amburgh machte sich auf den Weg zurück zur Kirche, und Jake folgte ihm, wenn auch nur ein paar Schritte weit. Am Friedhofstor wartete Ozzie. Amburgh blieb noch einmal ste hen. »Ich wohne in Temple. Es gibt ein Café am Highway 52, westlich der Stadt. Wir treffen uns dort morgen früh um halb acht.«
»Okay. Wie heißt das Café?«
»The Café.«
»Alles klar.«
Damit verschwand Amburgh ohne ein weiteres Wort. Jake sah Ozzie an, schüttelte ungläubig den Kopf und deutete Richtung Parkplatz. Seite an Seite entfernten sie sich vom Friedhof. Sie hatten für heute genug von Seth Hubbard.
Zwanzig Minuten später, um Punkt 16.55 Uhr, betrat Jake schwungvoll das Büro der Nachlassabteilung im Gericht und strahlte Sara an. »Wo bleiben Sie denn?«, fauchte sie ihn an.
»Es ist noch nicht fünf«, gab er zurück und öffnete seinen Aktenkoffer.
»Ja, aber wir arbeiten nur bis vier, jedenfalls dienstags. Mon tags bis fünf, mittwochs und freitags bis drei. Freitags können Sie von Glück sagen, wenn wir überhaupt da sind.« Sie redete, ohne Luft zu holen. In zwanzig Jahren tagtäglichem Geplänkel mit Juristen hatte sie gelernt, immer eine Antwort parat zu haben.
Jake legte seine Unterlagen vor ihr auf die Theke. »Ich möchte Mr. Seth Hubbards Testament eröffnen.«
»Gibt es denn einen schriftlichen Letzten
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