Die Erbin
Willen?«
»O ja, sogar mehr als einen. Das macht es besonders spannend.«
»Hat er sich nicht gerade erst umgebracht?«
»Sie wissen genau, was passiert ist, schließlich arbeiten Sie an einem Ort, an dem es keine Geheimnisse gibt.«
»Jetzt bin ich beleidigt«, sagte sie und stempelte seinen Antrag ab. Dann blätterte sie die Seiten um und sagte lächelnd: »Oh, wie schön, handgeschrieben. Was für eine Wohltat.«
»Sie sagen es.«
»Wer bekommt das Erbe?«
»Meine Lippen sind versiegelt«, scherzte Jake und zog unterdessen noch mehr Blätter aus seinem Koffer.
»Nun, Mr. Brigance, Ihre Lippen mögen versiegelt sein, aber diese Akte ist es hiermit nicht mehr.« Sie holte theatralisch mit ihrem Stempel aus und ließ ihn auf das Papier niedersausen. »Damit ist sie offiziell öffentlich, gemäß den Gesetzen dieses großartigen Staates. Es sei denn natürlich, Sie beantragen schrift lich, dass die Akte versiegelt werden soll.«
»Nein.«
»Das ist gut, dann können wir ja jetzt über die schmutzigen Details reden. Es gibt doch welche, oder?«
»Weiß ich noch nicht, ich wühle noch. Hören Sie, Sara, Sie müssen mir einen Gefallen tun.«
»Was immer Sie wollen.«
»Das hier ist ein Wettrennen zum Gericht, und ich habe ge rade gewonnen. Bald, vielleicht schon morgen, werden hier zwei oder drei arrogante Typen in dunklen Anzügen auftauchen und ebenfalls ein Testament von Mr. Hubbard eröffnen wollen. Höchstwahrscheinlich sind sie aus Tupelo. Es gibt nämlich ein zweites Testament.«
»Das gefällt mir.«
»Mir auch. Sie müssen denen nicht unbedingt erzählen, dass sie gerade Zweite geworden sind. Aber es wäre wahrscheinlich sehr unterhaltsam, ihre Gesichter zu sehen, wenn Sie es doch tun. Was meinen Sie?«
»Ich kann’s kaum erwarten.«
»Ausgezeichnet. Zeigen Sie ihnen die Akte, genießen Sie den Spaß, und dann rufen Sie mich an und erzählen, wie es war. Aber bitte, bis morgen muss das unter Verschluss bleiben.«
»Alles klar, Jake. Das hört sich vielversprechend an.«
»Tja, wenn sich alles so entwickelt, wie ich hoffe, haben wir mindestens ein Jahr lang unseren Spaß an dieser Sache.«
Sobald er draußen war, las Sara das handschriftliche Testament, das an Jakes Antrag hing. Sie rief die Kolleginnen zu ihrem Schreibtisch, damit sie es ebenfalls lasen. Eine Schwarze aus Clanton sagte, von einer Lettie Lang habe sie noch nie gehört. Auch Seth Hubbard schien keine von ihnen zu kennen. Sie unterhielten sich noch eine Weile, doch es war schon nach fünf, und alle hatten es eilig, in den Feierabend zu gehen. Die Akte wurde aufgeräumt, das Licht gelöscht, und die Angestellten dachten nicht mehr an die Arbeit. Am nächsten Morgen würde genug Zeit sein, um der Sache auf den Grund gehen.
Wäre der Antrag am Vormittag gestellt worden, dann hätte das Gericht spätestens zur Mittagspause kopfgestanden, und am Nachmittag hätte der Rest der Stadt Bescheid gewusst. Um diese Tageszeit jedoch war schlichtweg niemand mehr da, um Tratsch zu verbreiten.
Simeon Lang trank, aber er war nicht betrunken. Das war ein feiner Unterschied. Seine Familie kannte sich damit gut aus. Trinken bedeutete, dass er Schluck für Schluck Bier zu sich nahm, mit zunehmend glasigen Augen und schwerer Zunge. Wenn er dagegen betrunken war, musste man vor ihm aus dem Haus fliehen und sich zwischen den Bäumen verstecken. Zu seiner Ehrenrettung war zu sagen, dass er oft vollkommen nüchtern war, ein Zustand, der sogar ihm selbst am liebsten war.
Nach drei Wochen auf der Straße, in denen er unten im Süden Eisenschrott transportiert hatte, war er erschöpft, aber mit klaren Augen und einem Lohnscheck heimgekommen. Er hatte nicht gesagt, wo er gewesen war, doch das tat er nie. Er hatte versucht, den zufriedenen Familienvater zu spielen, aber schon nach wenigen Stunden konnte er das alles nicht mehr ertragen – die vielen Menschen im Haus, Cypress’ Geplapper, die Ablehnung seiner Frau. Er hatte ein Sandwich gegessen und war mit seinem Bier nach draußen gegangen, zu einem Baum, unter dem er seine Ruhe hatte und auf die Straße sehen konnte, wo hin und wieder ein Auto vorbeifuhr.
Das Heimkehren war immer schwer. Wenn er unterwegs war, träumte er stundenlang von einem neuen Leben, irgendwo, allein und unabhängig. Tausendmal war er versucht gewesen, einfach weiterzufahren, seine Fracht an ihrem Ziel abzuladen und durchzustarten. Sein Vater hatte die Familie im Stich gelassen, als Simeon ein Kind gewesen war, er hatte die
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