Die Erbin
friedvolle letzte Ruhestätte.
Vor der Tür standen noch ein paar Raucher, Männer vom Land in alten, ungern getragenen Anzügen. Sie begrüßten den Sheriff unterwürfig und nickten Jake höflich zu. Im Innern hatte sich eine beachtliche Menschenmenge auf den dunklen Eichen bänken zusammengefunden. Das Licht war gedimmt. Ein Organist spielte leise Trauermusik, um die Anwesenden auf den kommenden Schmerz einzustimmen. Seths Sarg war geschlossen und mit Blumen geschmückt und stand unter der Kanzel. Die Sargträger saßen mit grimmigen Mienen Schulter an Schulter links davon, nicht weit von dem elektrischen Klavier.
Jake und Ozzie setzten sich allein in eine hintere Reihe und begannen sich umzusehen. Ein paar Reihen vor ihnen saß eine Gruppe von Schwarzen, insgesamt fünf Personen.
Ozzie nickte in ihre Richtung und flüsterte: »Die im grünen Kleid, das ist Lettie Lang.«
Jake nickte und flüsterte zurück: »Wer sind die anderen?«
Ozzie schüttelte den Kopf. »Kann ich von hier aus nicht sagen.«
Jake blickte auf Letties Hinterkopf und versuchte, sich auszumalen, was ihnen beiden bevorstand. Noch hatte er die Frau nicht kennengelernt, deren Namen er gestern zum ersten Mal gehört hatte. Doch sie würden sich kennenlernen, und zwar ziemlich gut.
Lettie ahnte von alledem nichts, während sie in ihrer Bank saß, die Hände im Schoß gefaltet. Am Morgen hatte sie drei Stunden gearbeitet, bis Herschel gesagt hatte, dass sie gehen könne. Auf dem Weg nach draußen hatte er ihr mitgeteilt, dass ihr Arbeitsverhältnis am folgenden Mittwoch um fünfzehn Uhr enden werde. Von da an werde das Haus leer stehen, bis vom Gericht weitere Anordnungen kämen. Lettie hatte vierhundert Dollar auf ihrem Girokonto, das sie vor Simeon geheim hielt, und dreihundert Dollar in einem Einmachglas in der Vorratskammer. Davon abgesehen war sie pleite und ohne Aussichten auf einen vernünftigen Job. Mit ihrem Mann hatte sie seit fast drei Wochen nicht gesprochen. Er war gelegentlich mit einem Scheck oder etwas Bargeld heimgekommen, meist aber war er betrunken und musste seinen Rausch ausschlafen.
Ohne Arbeit, mit unbezahlten Rechnungen und hungrigen Mäulern zu Hause, hätte Lettie hier sitzen können und sich zum Klang der Orgel über ihre Zukunft sorgen können, doch das tat sie nicht. Mr. Hubbard hatte ihr vor seinem Tod – und da wusste er schon, dass der unmittelbar bevorstand – mehr als einmal versprochen, dass er ihr ein bisschen was hinterlassen würde. Wie viel würde es sein? Lettie konnte nur träumen. Vier Reihen hinter ihr dachte Jake: wenn sie nur wüsste. Sie hatte keine Ahnung, dass er da war. Später würde sie sagen, dass sie den Namen Brigance im Zusammenhang mit dem Hailey-Prozess schon gehört, Jake aber noch nie gesehen habe.
Vorn in der Mitte, gleich vor dem Sarg, saß Ramona Dafoe zwischen Ian und Herschel. Keine von Seths Enkelinnen hatte es geschafft zu kommen. Sie waren viel zu eingespannt. Nicht dass die Eltern sie besonders gedrängt hätten. Dahinter hockten ein paar weit entfernte Verwandte, die sich erst einmal hatten vorstellen müssen und nicht lange im Gedächtnis bleiben würden. Seth Hubbards Eltern waren seit Jahrzehnten tot. Ancil, sein einziger Bruder, war vor langer Zeit weggegangen. Sie waren nie eine richtig große Familie gewesen, und die Jahre hatten sie immer stärker dezimiert.
Hinter Familie und Verwandtschaft schlossen sich mehrere Dutzend weitere Trauernde an – Seths Angestellte, Freunde und Gemeindemitglieder. Als Pastor Don McElwain um Punkt sechzehn Uhr die Kanzel betrat, wussten alle, dass es eine kurze Trauerfeier werden würde. Er begann mit einem Gebet und verlas dann einen kurzen Nachruf: Seth wurde am 10. Mai 1917 in Ford County geboren, wo er am 2. Oktober 1988 starb. Vor angegangen sind ihm seine Eltern, Mrs. sowieso und Mr. sowieso; er hinterlässt zwei Kinder und ein paar Enkel und so weiter.
Ein paar Reihen vor ihm auf der linken Seite entdeckte Jake ein bekanntes Gesicht. Schicker Anzug, sein Alter und Examens jahr: Stillman Rush, in seiner Familie Anwalt in der dritten Ge neration, ein Widerling aus einem Clan von Widerlingen, große Justizprominenz im Körperschafts- und Versicherungsrecht – jedenfalls so groß, wie man als Anwalt in den ländlichen Südstaaten werden konnte. Rush & Westerfield, die größte Kanz lei im Norden von Mississippi, hatte ihren Hauptsitz in Tupelo, war jedoch auf dem besten Weg, bald in jedem Einkaufszen trum eine Vertretung zu
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