Die Erbin
die kühle Abendluft. Eine Minute später bog ein Streifenwagen in die Straße ein und näherte sich langsam, bis er vor Jake zum Halt kam. Deputy Mike Nesbit wuchtete seinen übergewichtigen Leib aus dem Wagen, sagte: » ’ n Abend, Jake«, und zündete sich eine Zigarette an.
» ’ n Abend, Mike«, antwortete Jake.
Nebeneinander an der Motorhaube des Polizeiwagens lehnend, stießen sie Rauchschwaden in die Luft. »Ozzie hat nichts über Hubbard gefunden«, sagte Nesbit. »Er hat in Jackson recherchiert, was aber überhaupt nichts ergeben hat. Sieht so aus, als hätte der gute Mann seine Spielzeuge jenseits der Staatsgrenze versteckt. In Mississippi jedenfalls gibt es keinerlei Daten über ihn, außer zu seinem Haus, den Autos, seinem Grundbesitz und dem Sägewerk bei Palmyra. Darüber hinaus ist nichts verzeichnet. Überhaupt nichts. Keine Bankkonten, keine Firmen, keine Kapitalgesellschaften, keine Beteiligungen. Ein paar Versicherungs policen, das Übliche, mehr nicht. Es gibt Gerüchte, dass er in anderen Bundesstaaten Geschäfte betrieben hat, aber so weit sind wir noch nicht.«
Jake nickte und rauchte weiter. Das alles überraschte ihn nicht. »Und Amburgh?«
»Russell Amburgh stammt aus Foley, Alabama, ganz tief im Süden, unweit von Mobile. Er war dort Anwalt, bis er vor etwa fünfzehn Jahren von der Kammer ausgeschlossen wurde. Er hatte Mandantengelder mit eigenem Vermögen vermischt angelegt. Es gab aber keine Anklage und keine Vorstrafe. Nachdem er als Anwalt nicht mehr arbeiten durfte, ging er ins Holzgeschäft. Es ist anzunehmen, dass er Seth Hubbard dort kennengelernt hat. Soweit wir das beurteilen können, geht es ihm blendend. Warum er ausgerechnet in ein Kaff wie Temple gezogen ist, ist schwer zu sagen.«
»Ich fahre morgen früh nach Temple. Dann werde ich ihn fragen.«
»Gut.«
Ein betagtes Paar mit einem ebenso betagten Pudel ging vorbei. Man tauschte freundliche Grüße aus, ohne dass die beiden ihre Schritte verlangsamten. Als sie weg waren, blies Jake eine Rauchwolke aus. »Wie sieht es mit Ancil Hubbard, dem Bruder, aus? Hatten Sie da mehr Glück?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Wundert mich nicht.«
»Es ist schon komisch. Ich wohne mein ganzes Leben lang hier und habe noch nie von Seth Hubbard gehört. Mein Dad ist achtzig, und auch er hat immer hier gelebt. Er hat auch noch nie von Seth Hubbard gehört.«
»Dieses County hat zweiunddreißigtausend Einwohner, Mike. Sie können nicht alle kennen.«
»Ozzie kennt alle.«
Sie lachten kurz auf. Nesbit schnippte seine Kippe auf die Straße und streckte den Rücken. »Ich glaube, ich muss jetzt nach Hause, Jake.«
»Danke fürs Vorbeischauen. Ich werde morgen mit Ozzie reden.«
»Tun Sie das. Bis dann.«
Er fand Carla im Schlafzimmer. Sie saß auf einem Stuhl am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Es war dunkel. Jake trat leise ein und blieb dann stehen. Als sie wusste, dass er sie hören konnte, sagte sie: »Ich hab’s satt, Polizeiautos vor meinem Haus zu sehen, Jake.«
Er atmete tief durch und kam einen Schritt näher. Dieses Gespräch führten sie regelmäßig. Jake wusste, dass er seine Worte sorgfältig wählen musste, damit sie nicht ausrastete. »Ich auch«, erwiderte er leise.
»Was wollte er?«
»Nichts Besonderes, er hatte nur ein paar Hintergrundinfos über Seth Hubbard. Ozzie hat sich umgehört, aber nicht viel erfahren.«
»Hätte er dich nicht einfach morgen anrufen können? Warum muss er vorbeikommen und vor dem Haus parken, damit jeder sehen kann, dass es bei Brigances wieder mal nicht ohne Polizei geht?«
Fragen, auf die es keine Antwort gab.
Jake biss sich auf die Zunge und schlüpfte aus dem Zimmer.
8
Russell Amburgh saß im hinteren Teil des Cafés und verbarg sich hinter einer Zeitung. Er war kein Stammgast; überhaupt kannte ihn kaum jemand in der kleinen Stadt. Er war wegen einer Frau nach Temple gezogen, seiner dritten Ehefrau, und sie blieben meist für sich. Außerdem arbeitete er für einen Mann, der auf Diskretion und Zurückhaltung Wert legte, und das kam Amburgh sehr entgegen.
Kurz nach sieben Uhr hatte er sich an den Tisch gesetzt, einen Kaffee bestellt und zu lesen begonnen. Über Seth Hubbards Testament – besser: Testamente – wusste er nichts. Obwohl er fast zehn Jahre für ihn gearbeitet hatte, war ihm über sein Privat leben wenig bekannt. Er wusste bestens Bescheid über sein Vermögen, hatte aber früh erkannt, dass der Chef sich gern bedeckt hielt. Dass er gern Spiele
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