Die Erbin
nur allgemein, worum es sich handelte. Rechnen würde er später.
Auf dem ersten Karton stand »Immobilien«. Er war voller Urkunden, gelöschten Hypotheken, Immobilienbewertungen, Steuerbescheiden, bezahlten Rechnungen von Bauunternehmern, Durchschriften von Schecks, die Seth ausgestellt hatte, und Schlussplädoyers von Anwälten. Die Unterlagen bezogen sich auf Seths Haus in der Simpson Road, eine Hütte in der Nähe von Boon, North Carolina, eine Eigentumswohnung in einem Hochhaus bei Destin, Florida, und mehrere Grundstücke, die auf den ersten Blick nach unerschlossenem Land aussahen. Der zweite Karton enthielt laut Aufschrift »Holz-Verträge«. Auf dem dritten stand »Bank – Aktien«, was Jakes Interesse schon mehr weckte. Ein Portfolio bei Merrill Lynch in Atlanta war fast sieben Millionen Dollar wert, ein Anleihefonds bei UBS in Zürich etwas über drei Millionen. Auf einem Geldkonto bei der Royal Bank of Canada auf den Cayman Islands lagen 6,5 Millio nen. Was für aufregende exotische Investitionen. Alle drei waren Ende September gekündigt worden. Jake wühlte weiter auf den Spuren, die Seth sorgfältig ausgelegt hatte, und bald fand er das Geld. Es lag auf einer Bank in Birmingham, brachte sechs Prozent Zinsen per anno und wartete nur auf die Testamentseröffnung: 21,2 Millionen.
Jake wurde beinahe schwindelig bei dieser Zahl. Was für eine surreale Szene: Ein abgelegenes Sägewerk irgendwo in Missis sippi, ein staubiger, schummriger Raum in einem Fertigbau, ein Kleinstadtanwalt, der in einem gemieteten Haus wohnte und ein Auto fuhr, das gut dreihunderttausend Kilometer auf dem Tacho hatte, und dazu Geldsummen, die alles überstiegen, was sämtliche Anwälte in Ford County zusammen in ihrem Leben verdienen würden. Er musste lachen.
Das Geld existierte wirklich! Verwirrt schüttelte er den Kopf und empfand plötzlich tiefe Bewunderung für Mr. Seth Hubbard.
Als es an der Tür klopfte, zuckte Jake vor Schreck zusammen. Er klappte den Karton zu, öffnete die Tür und trat hinaus. Arlene sagte: »Mr. Brigance, das ist Dewayne Squire. Offiziell ist er Prokurist, aber in Wahrheit tut er nur, was ich ihm sage.« Arlene brachte zum ersten Mal ein Lachen zustande, wenn auch nur kurz. Dewayne gab Jake unsicher die Hand, während die scharfe Kamila aus der Nähe zusah. Die drei Angestellten blickten ihn an, als wollten sie etwas Wichtiges mit ihm besprechen. Dewayne war drahtig und leicht überaktiv und rauchte, wie sich herausstellte, Kette, ohne sich darum zu kümmern, wohin der Rauch zog.
»Können wir etwas mit Ihnen besprechen?«, fragte Arlene, die unangefochten das Wort führte. Dewayne zündete sich eine neue Kool an und rückte sie mit steifen Fingern im Mund zu recht. Das klang nach etwas Ernstem, nicht nach Small Talk über das Wetter.
»Sicher«, sagte Jake. »Worum geht es?«
Arlene streckte ihm eine Visitenkarte entgegen. »Kennen Sie diesen Mann?«, fragte sie.
Jake las den Namen. Reed Maxey, Rechtsanwalt, Jackson, Mississippi. »Nein«, erwiderte er. »Nie von ihm gehört. Warum?«
»Weil er letzten Dienstag hier aufgetaucht ist und behauptet hat, dass er sich um Mr. Hubbards Nachlass kümmert. Er meinte, das Gericht habe Bedenken, was das handschriftliche Testament angehe, das Sie zur Eröffnung eingereicht haben oder wie das heißt. Es sei wahrscheinlich ungültig, weil Seth offenbar wegen all der Medikamente nicht bei klarem Verstand war, als er den Selbstmord geplant und seinen Letzten Willen geschrieben hat. Er sagte, wir drei würden Hauptzeugen sein, weil wir Seth noch am Freitag vor seinem Selbstmord gesehen haben. Wir müssten aussagen, wie stark er durch die Medikamente verwirrt war. Und dann meinte er noch, dass wir in dem echten Testament, also dem, das von den Anwälten gemacht wurde, als Freunde und Angestellte auch was vermacht bekämen. Es sei also in unserem Interesse, wenn wir die Wahrheit sagten, dass Seth nämlich nicht – wie heißt das noch …«
»Testierfähig«, ergänzte Dewayne durch eine Wolke Mentholrauch.
»Genau«, sagte Arlene. »Dass Seth nicht testierfähig gewesen sei. Es klang, als wollte er Seth für geisteskrank erklären.«
Trotz seiner Überraschung gelang es Jake, keine Miene zu verziehen. Seine erste Reaktion war Wut. Wie konnte irgendein dahergelaufener Rechtsverdreher es wagen, sich in seinen Fall einzumischen, Lügen zu erzählen und Zeugen zu manipu lieren? Das verstieß gegen so viele ethische Grundsätze, dass sie gar nicht alle
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