Die Erbin
er geistig fit? Hat er sich sonderbar benommen? Stand er unter Medikamenteneinfluss? Haben die Medikamente möglicherweise sein Urteilsvermögen beeinträchtigt? Diese und ähnliche Fragen werden in Zukunft entscheidend sein.«
Jake ließ sie eine Weile darüber nachdenken, ehe er fortfuhr. »Also, Arlene. Jetzt hätte ich gern ein paar Antworten. Seth hat das Testament am Samstagmorgen in diesem Büro geschrieben. Er musste es vor zwölf Uhr zur Post bringen, damit es pünktlich am Montag bei mir ist. Sie haben ihn am Freitag gesehen, richtig?«
»Ja.«
»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«
Sie zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Augen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und weinte los, noch ehe sie überhaupt etwas gesagt hatte. Oje, das kann dauern, dachte Jake. Doch sie riss sich zusammen, straffte den Rücken und lächelte tapfer. »Wissen Sie, Mr. Brigance, ich weiß nicht recht, wem ich in dieser Situation vertrauen kann. Aber um ehrlich zu sein, Ihnen vertraue ich.«
»Danke.«
»Wissen Sie, mein Bruder war damals in der Jury.«
»In welcher Jury?«
»Carl Lee Hailey.«
Die Namen aller zwölf Geschworenen von damals waren für immer in Jakes Gedächtnis eingebrannt. »Wie heißt er?«, fragte er lächelnd.
»Barry Acker. Mein jüngster Bruder.«
»Ich werde ihn nie vergessen.«
»Er hat großen Respekt vor Ihnen, wegen des Prozesses und so.«
»Und ich habe großen Respekt vor ihm. Die Geschworenen waren sehr mutig, und sie haben das richtige Urteil gefällt.«
»Als ich gehört habe, dass Sie Seths Nachlass abwickeln, habe ich mich besser gefühlt. Aber dann, als wir mehr über das Testament erfuhren … es ist alles ziemlich verwirrend.«
»Ich verstehe das. Am besten vertrauen wir einander, okay? Lassen Sie den ›Mister‹ weg, nennen Sie mich Jake, und erzählen Sie mir die Wahrheit. Wie klingt das?«
Arlene legte das Taschentuch auf den Tisch und entspannte sich etwas. »Okay, aber ich will nicht vor Gericht.«
»Darüber können wir uns später immer noch Gedanken machen. Im Augenblick brauche ich nur ein paar Hintergrundinfos.«
»Also gut.« Sie schluckte, straffte die Schultern und legte los. »Seths letzte Tage waren nicht schön. Es war etwa einen Monat lang ständig auf und ab mit ihm gegangen. Er hatte zwei Runden Chemo und Bestrahlung hinter sich, hatte Haare und an Gewicht verloren, und war so schwach, dass er gar nicht aus dem Bett aufstehen konnte. Aber er war ein zäher alter Mann und wollte nicht aufgeben. Nur, es war Lungenkrebs, und als die Tumore wiederkamen, wusste er, dass das Ende nah war. Er hörte auf zu reisen und verbrachte mehr Zeit hier. Gegen die Schmerzen nahm er ein starkes Mittel, Demerol. Er kam früh, trank einen Kaffee, und dann schien es ihm für ein paar Stunden einigermaßen gut zu gehen, bis es wieder schlechter wurde. Ich habe nie gesehen, wie er die Schmerzmittel nahm, aber er hat davon gesprochen. Manchmal litt er unter Erschöpfung, Schwindel und Übelkeit. Trotzdem ist er noch Auto gefahren. Wir haben uns deswegen Sorgen gemacht.«
»Wer hat sich Sorgen gemacht?«
»Wir drei. Wir haben uns um Seth gekümmert. Aber er hat nie jemanden an sich herangelassen. Sie sagen, Sie haben ihn nicht kennengelernt. Das wundert mich nicht, denn er ist Menschen aus dem Weg gegangen. Er hasste Small Talk. Er war alles andere als herzlich. Er war ein Einzelgänger, der sich von niemandem in die Karten schauen oder helfen ließ. Er hat sich immer selbst Kaffee geholt. Wenn ich ihm welchen gebracht habe, hat er sich nie bedankt. Er hat Dewayne die Leitung seines Betriebes anvertraut, aber sie haben nicht viel Zeit miteinander verbracht. Kamila ist seit ein paar Jahren hier, und er hat gern mit ihr geflirtet. Sie ist ein Flittchen, aber süß, und er mochte sie. Doch das war alles. Nur wir drei.«
»Hat er in seinen letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches getan?«
»Eigentlich nicht. Es ging ihm schlecht. Er hat viel geschlafen. Am Freitag war er gut drauf. Wir drei haben hinterher darüber gesprochen und kamen zu dem Schluss, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn jemand, der beschlossen hat, sich um zubringen, plötzlich entspannt ist und sich auf das Ende zu freuen scheint. Ich denke, Seth wusste am Freitag, was er vorhatte. Er hatte die Nase voll. Er wusste, dass er sowieso bald sterben würde.«
»Hat er je über sein Testament gesprochen?«
Das schien sie zu belustigen, denn sie lachte kurz auf. »Seth hat
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