Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
Jehane Mor schien den Ausdruck in ihren Gesichtern richtig zu deuten. » Das geschah vor langer Zeit « , sagte sie, » und Ihr beide habt ebenso wenig etwas mit der Zerstörung von Jaransor zu tun wie alle anderen Derai, die heute leben. «
Kalan schüttelte den Kopf. » Ob Jaransor das weiß? Der Plan, diesen Ort zu verlassen, klingt für mich jetzt noch besser als zuvor. «
» Das Wetter ist gegen uns « , sagte Jehane Mor. » Ich weiß nicht, ob uns das gelingt. «
Die grauen Pferde trabten durch eine Welt, die sich immer schneller weiß färbte. Die Schneeflocken fielen dicht auf sie herab, und obwohl Malian sich in ihren Mantel kuschelte und die Wärme von Tarathans Rücken spürte, war ihr kalt. » Schon bald « , dachte sie, » werden wir nur noch Schatten hinter einem Vorhang aus fallendem Schnee sein, verloren in Jaransor. «
Hinter ihnen hallte der klagende Ton eines Horns durch die Hügel. Die Pferde schnaubten. Malian und Kalan warfen sich bestürzte Blicke zu, als ein zweites Horn auf den Ruf des ersten antwortete – und ein drittes, leiser und weiter entfernt, hinzukam. Tarathan und Jehane Mor sahen sich schweigend an, und die grauen Pferde galoppierten los, als hätten die Herolde laut zu ihnen gesprochen. Doch egal, wie schnell sie sich bewegten, der Schnee war schneller. Die Flocken wirbelten um sie herum und ließen sich schwer auf dem Boden nieder. Malian versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Männer ihres Vaters drei Jahre zuvor während des Sturms, der ihn in das Winterland getrieben hatte, gestorben waren. Stattdessen richtete sie den Blick nach vorn und versuchte, etwas in der Weiße zu erkennen. Doch da war nichts, nur der Schnee und die Steilhänge – bis sie noch einmal hinsah und eine Gruppe von Schatten entdeckte, die auf der Straße vor ihnen warteten.
Malian holte tief Luft und wollte eine Warnung ausstoßen, aber die Herolde hielten bereits an. Sie sagten nichts, sondern führten die grauen Pferde nur langsam vorwärts, bis die Schatten zu einem Reiter auf einem weißen Pferd wurden, neben dem zwei Botenpferde standen. So reglos wie eine Statue saß der Falke auf dem linken Unterarm des Reiters. Er hatte sich aufgeplustert, um sich vor der Kälte zu schützen. Der Reiter trug ein Gewand aus weißem Leder, das mit dem Schnee verschmolz. Bilder waren darin eingestickt: Sonne und Mond, wilde Tiere aus rotbraunem Faden, die einander jagten. Die Kapuze verdeckte das Gesicht des Reiters, und Malian fragte sich für einen Moment, ob sie einem lebenden Menschen gegenüberstanden oder einem Geist von Jaransor.
Die Herolde schienen solche Zweifel nicht zu hegen. » Seid gegrüßt, Lady des Winters « , sagte Tarathan von Ar. » Das ist eine überraschende Begegnung. «
» Wirklich? « , fragte die Reiterin. Malian kannte ihre Stimme nur zu gut. Eine Hand, die in einem Handschuh steckte, schob die Kapuze zurück. Das Gesicht darunter war das von Rowan Birkenmond. Humor blitzte in ihren grauen Augen, und Malian sah den gleichen Ausdruck in Jehane Mors Gesicht.
» Vielleicht nicht völlig überraschend « , gab die Heroldin zu. » Der Winter erschien uns etwas … ungewöhnlich. «
Schnee umgab die Winterdame, aber ihr Lächeln war warm. » Seid gegrüßt, Erbin der Nacht « , sagte sie. » Und ich grüße auch dich, Kalan, obwohl wir uns noch nicht kennen. Ich bin Rowan Birkenmond. «
Malian schloss rasch ihren Mund, der vor Überraschung offen gestanden hatte. » Habt Ihr den Winter herbeigerufen? « , fragte sie.
» Ist das Euer Falke? « , fragte Kalan gleichzeitig. » Beobachtet Ihr uns schon die ganze Zeit? «
» Sagen wir es so « , antwortete Rowan Birkenmond. » Ich habe den Winter hergebeten, weil es dringend war, und er kam. Was den Falken angeht: Nein, er gehört mir nicht, aber dies sind seine Hügel, und er hat sich entschieden, eine Weile gemeinsam mit mir zu jagen. «
Sie drehte den Kopf, und der Schnee wich zurück. Die Luft wurde wärmer, die Umgebung klarer. » Ihr müsst das Wetter nicht fürchten, solange ich bei Euch bin. «
Kalan atmete tief durch. » Dann seid Ihr also wirklich eine Hexe « , sagte er und errötete. » Ich meine, Ihr habt den Winter gerufen! «
Rowan Birkenmond lächelte. » Wir benutzen dieses Wort im Winterland nicht, Kalan. Dort nennt man mich Schamanin. «
» Doch selbst bei dringenden Angelegenheiten « , bemerkte Tarathan, » folgt der Winter nur dem Ruf der mächtigsten Schamanen. «
Malian hatte nicht vergessen, wie tief sich
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