Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
Gesichter sahen sich an und dann zu Eria, ihrer Sprecherin. Die Novizin schüttelte den Kopf. » Wir waren stolz darauf, für diese Mission ausgewählt worden zu sein, Heroldin Jehane, und unserem Haus dienen zu können. Doch jetzt sind wir hier und haben gesehen, was Ihr tut … « Sie brach ab und schüttelte erneut den Kopf.
» Was habt Ihr gesehen? « , fragte die Heroldin geduldig.
» Was wahre Stärke ist « , sagte der junge Mann neben Eria schroff. Auf seinem breiten, abgerundeten Gesicht stand Bitterkeit.
» Psst « , machte Eria schnell. Doch der Junge auf ihrer anderen Seite, der eng stehende haselnussbraune Augen in einem schmalen, klugen Gesicht hatte, ergriff das Wort.
» Torin sagt nur das, was wir alle wissen, Eria. Heroldin Jehane hat uns alle beschützt. «
» Genau « , sagte Torin bitter. » Wir könnten genauso gut nicht hier sein. «
» Vielleicht hatte die Hofmarschallin recht « , sagte das große Mädchen neben ihm. » Vielleicht sind wir ja nur eine Belastung. «
» Wir wissen nicht, warum Ihr uns alle angefordert habt « , sagte eine andere junge Frau, die auf ihre Füße starrte.
» Wie heißt Ihr? « , fragte Jehane Mor.
Der gesenkte Kopf hob sich. » Tisanthe « , sagte sie sehr schüchtern.
» Und Ihr? « , fragte die Heroldin das große Mädchen.
» Terithis « , antwortete dieses, etwas kühner als seine Freundin.
» Var « , sagte der Priester mit dem schmalen Gesicht als Antwort auf einen Blick der Heroldin.
» Und Ihr seid Torin « , sagte die Heroldin zu dem jungen Mann auf Erias anderer Seite mit einem kleinen Nicken. Sie sah die anderen drei an, die schwiegen. » Werdet auch Ihr mir Eure Namen verraten? «
» Armar « , sagte der Bursche neben Torin und nickte kurz mit dem Kopf. Sommersprossen waren über seine Hakennase verstreut. Aus den geborgten schwarzen Kleidungsstücken ragten nur knochige Handgelenke und Fußknöchel hervor. Der Junge, der neben ihm stand, warf nur einen kurzen Blick hoch. Seine Augen waren so dunkelblau, dass sie beinahe so schwarz wie sein Haar wirkten.
» Serin « , murmelte er und senkte schnell wieder den Blick. Die junge Frau neben ihm hatte die gleichen Gesichtszüge, Augen- und Haarfarbe wie er und hätte seine Zwillingsschwester sein können. Sie sprach gleichzeitig mit ihm.
» Ich bin Ilor « , sagte sie.
» Also « , sagte Jehane Mor. Sie verneigte sich ernsthaft vor allen. » Wir hätten nicht um Eure Anwesenheit gebeten, wenn wir Eure Hilfe nicht bräuchten « , sagte sie schlicht.
Torin schaute sie misstrauisch an. » Vielleicht sagt Ihr das nur, um uns zu ermutigen. «
Jehane Mor lächelte. » Das wäre möglich « , erwiderte sie, » doch die Herolde der Gilde lügen nicht. «
Verblüfft schwiegen alle. Dann riss Eria sich zusammen und sagte: » Wir werden alles tun, was wir können. Doch Ihr müsst inzwischen wissen, dass wir weder im Suchen noch im Abschirmen stark sind. Diese besonderen Gaben sind im letzten Jahrhundert fast ausgestorben. «
» Mag ja sein, dass wir den Besten des Tempelviertels angehören « , sagte Var so ironisch, wie Torin bitter klang, » doch das macht uns leider auch nicht sehr stark. «
» Einzeln mag das stimmen « , sagte Tarathan, der zum ersten Mal sprach. » Doch wenn Ihr Eure kleinen Fähigkeiten bündelt, werden sie beträchtlich stärker. Somit seid Ihr nicht anders als all die Krieger hier, die auf sich allein gestellt große Schwierigkeiten hätten. Doch indem sie zusammengestanden und -gearbeitet haben, ist es ihnen gelungen, den Angriff der grausamen Echsen zurückzuschlagen. «
Die Priester wechselten verdutzte Blicke.
» Tarathan hat recht « , sagte Jehane Mor. » Und ich kann Euch eine Schildform lehren, die Euch helfen wird, Eure Stärke zu finden. Wenn sich alle Beteiligten daran binden, wird sie sehr stark. «
Die Priester tauschten weitere Blicke aus. » Zeigt es uns « , sagte Eria.
Jehane Mor streckte die Hand aus, hielt Erias Blick fest und formte die Umrisse des Gesichts der Novizin mit ihrer Hand. Dann hoben sich alle jungen Gesichter, als die Macht der Heroldin über sie hinwegfloss. » Dieser Schild wird ›Acht‹ genannt « , sagte sie. Ihre Stimme war wie Licht auf dem Wasser. » Um den Schild zu errichten, müsst Ihr Euren Geist öffnen – zunächst mir gegenüber, dann Euren Kameraden gegenüber. Das Weben folgt dem Muster der Zahl, das unendlich ist, ein Fluss ohne Anfang oder Ende. Ihr müsst Euch mit diesem Fluss vereinen, damit Ihr nicht länger
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