Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Leere.Ein schneeiger Windstoß ließ sie erschauern; wie passend, dachte sie unzusammenhängend, dass dieser nachdrückliche Beweis der angebrochenen Adventszeit ihr Gänsehaut verursachte. Advent war seit Jahren etwas, das durchlitten werden musste. Keine Kerzen, kein Gebäck mehr … keine warme kleine Hand, die sich in die ihre schmiegte, um der Kälte zu entgehen. Sie straffte sich und trat ein.
Die Zeit nach dem Mittagsläuten war die beste Zeit, um die Kirche zu besuchen. Meistens war sie dort allein. Es war einfacher, die Fassung zu bewahren, wenn man sie nicht bewahren musste, um neugieriges Mitleid zu verhindern. Wenn man weinen und mit den Zähnen knirschen und Gott beschuldigen durfte, dass er einem das Beste weggenommen hatte, dann war es irgendwie einfacher, es nicht zu tun … dann konnte man sich still niederknien und eine Kerze anzünden, hoffen, dass die kleine Flamme die noch kleinere Seele wärmte, die für so kurze Zeit das Dasein mit einem geteilt hatte und die jetzt irgendwo war, erreichbar nur in Träumen.
Und man konnte hoffen, dass man irgendwann am Morgen aufstehen und den Schmerz nicht mehr so übermächtig empfinden würde, dass jede Stunde des Tages ein Kampf gegen die Verzweiflung war. Sie hoffte seit so vielen Jahren …
Sie holte die Kerze aus ihrem Mantel, hielt den Docht an die Flamme einer der anderen Kerzen, die in der Seitenkapelle brannten, und klebte sie auf dem Steinboden fest. Anfangs hatte sie große, wuchtige Kerzen genommen und nach ihren Besuchen stehen gelassen, doch dann hatte sie festgestellt, dass es Menschen gab, die solche teuren Kerzen stahlen, löschten und dann in einer anderen Seitenkapelle neu entzündeten, um ihre eigenen Bitten an das Emporzüngeln der Flamme zu heften. Im Gegensatz zu früher war sie nicht mehr sicher, ob Gott solche Gebete nicht genauso erhörte wie alle anderen, weil es ihm ohnehin egal war, was die Menschen taten, ob sie lebten – oder starben. Jedenfalls war sie dazuübergegangen, kleine Kerzen zu verwenden und so lange bei ihnen zu verharren, bis sie heruntergebrannt waren.
Sie blickte nach oben, in das nachgedunkelte bärtige Gesicht auf dem Gemälde.
»Behüte deinen Schützling, heiliger Mikuláš«, flüsterte sie. »Behüte ihn im Tod, wenn du ihn schon im Leben nicht schützen konntest.«
Der Heilige antwortete nicht. Die Kerzenflamme brannte stetig. Alexandra schluckte den Schmerz hinunter, der sich in ihre Kehle krallte.
»Hallo, Miku«, wisperte sie heiser. »Hier ist deine Mutter. Geht es dir gut?«
Sie konnte nicht weitersprechen. Während der Anblick der vielen Dutzend Kerzenflammen vor ihrem Gesicht verschwamm, sagte sie sich, dass sie nicht hätte kommen sollen. Immer am Namenstag ihres einzigen Kindes fand sie sich in der Kapelle vor dem Bild von Mikus Namenspatron ein und versuchte, so zu tun, als könne man mit Gott, den Heiligen und den Toten Verbindung aufnehmen. Mühsam kam sie auf die Beine und trat in das Kirchenschiff hinaus.
»Keine Mutter sollte jemals ihr Kind zu Grabe tragen müssen«, hörte sie eine Stimme sagen. Die Stimme war in ihrem Kopf, und sie gehörte Wenzel von Langenfels. Sie hatte die Bemerkung abgeschmackt empfunden und gleichzeitig gewusst, dass es ein ehrlicher Versuch von seiner Seite gewesen war, Mitgefühl auszudrücken.
Wenn du wüsstest, hatte sie damals gedacht und dachte es auch heute. Wenn du wüsstest …
Die kleine Kerze in der Kapelle brannte zügig herunter. Alexandra starrte sie an. Ihr beim Verlöschen zuzusehen war fast genauso, wie Zeuge von Mikuláš’ Verlöschen zu werden, zu beobachten, wie sein schmaler Körper immer schmaler und sein Gesicht immer blasser wurde und seine Augen begannen, an ihr vorbei und durch sie hindurch an einen Ort zuschauen, zu dem sie ihm nicht folgen konnte. Panik befiel sie, sodass sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. Sie bückte sich nach der Kerze, doch dann zuckte sie zurück. Wenn sie sie auslöschte, wäre das nicht, als ob sie Mikus Leben …? Aber das Kind war tot, es konnte nicht mehr schlimmer werden, und einfach zu gehen und dann später darüber nachzudenken, ob jemand anderes die kleine Kerze ausblasen und für seine eigenen Zwecke stehlen würde, war fast genauso unerträglich, wie zuzusehen, wie ihr Licht erlosch. Sie löste die Kerze vom Boden, hielt sie dicht vor ihr Gesicht und blies sie aus mit einem Hauch, der wie ein Kuss war. Der Rauch des erloschenen Flämmchens stieg in die Höhe und verging mit einem letzten
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