Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
oder nicht? Gott kann ihn doch nicht sterben lassen, er ist doch ein unschuldiges Kind? Sie war sicher, dass sie es nicht durchstehen würde, auf dieselbe Art von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin bestürmt zu werden und die Verantwortung zu tragen für das Leben, das so unvermittelt in ihrer Hand lag. Einen Augenblick lang war sie überzeugt, dass ihre eigene Tragödie sich an der Familie ihres Bruders wiederholen würde. Wer sollte sich schon im Namen der kleinen Lýdie zwischen das Leben und den Tod stellen? Ein gütiger Gott? Ha!
»Du hast selbst einmal gesagt, dass es die Aufgabe einer Heilerin ist, zwischen dem Tod und der Hoffnung zu stehen. Gott stellt sich nicht dazwischen. Er hat stattdessen Menschen wie dir die Fähigkeit verliehen, es zu tun.«
Ich habe keine Hoffnung , wollte Alexandra entgegnen. Schon gar nicht an einem Tag wie diesem. Heilen zu wollen bedeutet, die Hoffnung niemals aufzugeben. Ich habe nicht die Kraft zu hoffen .
»Alexandra, sosehr ich deinen Schmerz respektiere – dumusst helfen. Wenn du dich heraushältst, und Lýdie wird durch ein Wunder gesund, dann wird das noch schlimmer sein, als wenn du Andreas und Karina sagen musst, dass du die Kleine nicht retten kannst.«
Alexandra schnaubte. Sie erinnerte sich daran, was ihre Lehrerin gesagt hatte, die alte Hebamme Barbora, die nun längst selbst jenseits allen Hoffens und Bangens und – wollte man den Ansichten glauben, die böse alte Männer vom Schlag des Fürstbischofs von Würzburgs vertraten – im tiefsten Kreis der Hölle war: Das Schlimmste ist nicht, dass du sie sterben siehst, sondern den Dank in ihren Augen, wenn du ihnen sagst, dass sie es schaffen werden – obwohl du ahnst, dass es nicht der Fall sein wird. Alexandra hatte auch Miku ständig versichert, dass er wieder gesund würde. Sie hatte in seinen Augen lesen können, dass er es besser gewusst hatte, aber er hatte stets dazu genickt und gelächelt. Das todkranke Kind hatte versucht, seiner untröstlichen Mutter Hoffnung zu geben.
»Wein nicht«, sagte Agnes und begann selbst zu weinen. »Ich weiß, woran du denkst.«
Ich habe meinen Weg nach dem Abschied von meinem Kind eingeschlagen, weil ich diesem einen Tod so viele Leben wie möglich entgegensetzen wollte; weil ich dem Sensenmann ein erbittertes Gefecht um jede weitere Seele liefern wollte , dachte Alexandra. Nicht, damit jemand die Narben auf meiner Seele aufkratzt und den Wunden, die darunterliegen und niemals verheilt sind, neue hinzufügt!
»Wo sind Andreas und seine Familie überhaupt?«, fragte sie.
Agnes senkte den Blick erneut. »In Würzburg«, sagte sie. »Es liegt auf dem Weg von Münster nach …«
»O mein Gott«, stieß Alexandra hervor. »Wie kannst du das von mir verlangen? O mein Gott!«
»Ich hatte unrecht«, sagte Agnes; ihre Stimme klang entmutigt. »Verzeih mir. Ich hätte es wirklich nicht von dir verlangendürfen.« Sie zog ihren Mantel fest um ihre Schultern zusammen und wandte sich ab. Ein letztes Mal drehte sie sich zu Alexandra um. »Ich liebe dich so sehr«, sagte sie. »Ich habe damals zu Gott gebetet, dass er Cyprian und mich nehmen soll, wenn er Miku und Kryštof dafür verschont. Aber wie wir alle wissen: Handeln kann man nur mit dem Teufel.«
Alexandra nickte unter Tränen. Auch mit ihm nicht , schrie es in ihr. Ich habe ihm meine Seele versprochen, wenn er Miku rettet, aber er hat mir ebenso wenig geantwortet wie Gott dir.
Agnes schritt über den Schnee in die Düsternis der nächstgelegenen Gasse davon. Von irgendwoher kam ein Duft von Bratäpfeln und süßem Gebäck und verwehte sofort. Eine Faust krallte sich um Alexandras Herz und presste es gnadenlos zusammen. Der beständig durch die Gassen wehende Schneewind ließ sie zittern. Wie noch nie in den vergangenen Jahren wünschte sie sich, jemanden um Rat fragen zu können, jemanden, der nicht eine Freundin oder einer ihrer Brüder oder ihre Mutter war, sondern jemand, mit dem man seinen Körper und seine Seele geteilt hatte und der einen kannte wie sonst kein anderer Mensch.
Langsam, als trüge sie eine tonnenschwere Last, stapfte sie zurück in die Kirche und zündete eine weitere Kerze an, diesmal für Kryštof.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass dies die erste Kerze seit vielen Jahren ist, die ich für dich entzündet habe. Es tut mir leid, dass ich nicht die Kraft hatte, dir die Liebe zu schenken, die du mir gegeben hast.« Sie sah sich um. Sie war allein in der Kirche, und doch
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