Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Flackern, und auf einmal dachte sie, dass sie dieses Flackern auch als das Winken der kleinen Seele ihre Sohns nehmen konnte, die sich bei ihr meldete.
Absurd, dachte sie. Gedanken wie diese waren der letzte Strohhalm, bevor einen der Wasserfall des Schicksals in die Tiefe riss.
Dennoch fühlte sie sich auf eine seltsame Art und Weise getröstet, als sie die Kirche verließ.
Das Licht draußen war trüb. Die Schönheit der Stadt schimmerte durch die Dämmerung und berührte das Herz, auch wenn der Winter sie in ein Mosaik aus grauen und schwarzen Flächen verwandelte, über denen die Rauchsäulen aus den Kaminen hingen und der beißende Hausbrandgeruch in die Gassen sank. Alexandra tastete nach der Kerze in ihrer Tasche. Sie bedauerte es auf einmal so sehr, sie nicht bis zu Ende brennen gelassen zu haben, dass sie fast wieder umgekehrt wäre. Dann erkannte sie die Gestalt, die allein vor der Kirche auf dem Pflaster stand.
»Mama?«
Von Weitem sah Agnes Khlesl immer noch wie eine Frau in mittleren Jahren aus. Ihr langes Haar, das sich zu einemschimmernden Grau gefärbt hatte, trug sie hochgesteckt unter einem Kopftuch; ihre schlanke, hochgewachsene Statur tat ein Übriges, um den Eindruck zu verstärken, dass sie nicht Alexandras Mutter, sondern höchstens ihre ältere Schwester war.
Bestürzt erkannte Alexandra, dass Agnes geweint hatte, und die harsche Frage, ob ihre Mutter ihr gefolgt sei, weil sie ihr noch immer nicht zutraute, allein mit ihrer Trauer fertig zu werden, starb auf ihrer Zunge, zusammen mit dem leisen Gefühl des Trostes, das ihr der Kirchenbesuch geschenkt hatte.
»Was ist passiert?«
Agnes räusperte sich. »Es geht um Lýdie«, sagte sie schließlich.
»Was ist mit der Kleinen? Andreas und seine Familie sind doch auf der Rückreise aus Münster … um Gottes willen, ist ihnen etwas zugestoßen? Der Krieg ist doch vorbei …«
»Nein, sie sind wohlauf. Außer Lýdie.«
Alexandra starrte ihrer Mutter ins Gesicht. »Schlimm?«
»Schlimm.« Agnes’ Augen begannen zu schwimmen.
» Wie schlimm?«
Agnes kämpfte damit, es ihr zu sagen. Eine Ahnung stieg in Alexandra hoch, und sie schnürte ihr beinahe die Stimme ab. »Nervenfieber?«
Agnes nickte und senkte den Blick.
»Sie ist die Einzige, die sich damals nicht angesteckt hat«, murmelte Alexandra. In Gedanken forderte sie ihre Mutter heraus, es zu sagen, aber Agnes schwieg, und so sprach Alexandra es aus: »So wie Miku der Einzige war, der damals daran gestorben ist.«
»Kryštof ist auch gestorben«, sagte Agnes.
Alexandra schluckte. Sie antwortete nicht. Auch heute hatte sie wieder vergessen, eine Kerze für ihren verstorbenen Ehemann zu entzünden. Sie fragte sich im Stillen, ob es wohl daran lag, dass sie ihm nicht verzeihen konnte, dieKrankheit von einer Reise mit nach Hause gebracht zu haben. Es war nicht seine Schuld gewesen. Wenn einer Schuld trug, dann Gott, und selbst von ihm konnte man nicht erwarten, dass er über jedes einzelne Leben wachte. Nein, es war zu viel verlangt von Gott. Er hatte in den letzten dreißig Jahren genug damit zu tun gehabt, die Seelen derer zu wiegen, die von den Soldaten aller Lager erschossen, erstochen, erschlagen, ertränkt, erdrosselt, zu Tode gefoltert und geschändet worden waren. Wie aber sollte man Gott die Schuld geben und danach einem neuen Tag ins Auge sehen können? Es gab Situationen, da mussten Menschen die Bürde auf sich nehmen, die der Herr der Schöpfung eigentlich zu tragen hätte.
»Er hat es nicht verdient, weißt du«, sagte Agnes leise.
Natürlich hatte er es nicht verdient. Tatsächlich war Alexandra nicht nur Miku genommen worden, sondern auch Kryštof, der Mann, dessen Namen sie trug, der Mann, den sie geheiratet hatte. Kryštof Rytíř war zwei Tage vor Miku gestorben, verzweifelt darüber, dass die Krankheit, mit der er sich angesteckt hatte, nun auch seinen Sohn dahinraffen sollte, und hoffnungslos, weil er seiner Frau ansah, dass sie ihm deswegen nicht verzeihen konnte. Wahrlich, Kryštof hatte das alles nicht verdient gehabt; nicht verdient zu sterben, nicht verdient, sich selbst dafür zu verfluchen, nicht verdient, von seiner Frau verflucht und bei den Kirchenbesuchen ein ums andere Mal vergessen zu werden. Schon gar nicht hatte er verdient gehabt, mit der Lüge zu leben und mit ihr zu sterben, dass Miku sein Kind gewesen war.
»Ich kann das nicht«, sagte Alexandra.
»Ich habe nichts von dir verlangt«, sagte Agnes.
»Du wärest nicht hierhergekommen, wenn
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