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Die Erde ist nah

Die Erde ist nah

Titel: Die Erde ist nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludek Pesek
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unerwartet. Wie in den meisten ähnlichen Fällen. Jenkins begann zu weinen und krampfhaft zu schluchzen, eine Erscheinung, die sowohl für den Weinenden als auch für den Zeugen erniedrigend ist. Jenkins war das jüngste Mitglied der Expedition. Ich mußte ihm eine Beruhigungsspritze geben. Als seine krampfhaften Zuckungen nachließen, gestand er mir: »Ich bin völlig fertig. Alles ist umsonst. Alles ist umsonst. . .« Mit diesen Worten antwortete er auf alle meine weiteren Fragen.
    Mühsam gelang es mir endlich, in seine geistige Welt einzudringen. In unzusammenhängenden Sätzen berichtete er, daß vor einigen Tagen aus der Erdzentrale eine sehr ernste Abweichung der Flugbahn gemeldet worden war. Jenkins war überzeugt, daß es unmöglich sei, diesen Fehler zu korrigieren, daß wir am Mars vorbeifliegen und als Schiffbrüchige in den Oden des Weltraums enden würden. Trotz aller Mühe gelang es mir nicht, ihm diese fixe Idee auszureden. Er hielt sich an ihr als an der einzig sicheren Gewißheit fest, so wie ein Schiffbrüchiger sich am schwimmenden Balken festhält, der vomStrom in den verderbenden Strudel gezogen wird. Das einzige, was ich erzielte, war das Versprechen, mit keinem über seine Ansicht zu sprechen.
    Ich bin fest überzeugt, daß Jenkins sein Versprechen gehalten hat. Doch den Expeditionsmitgliedern entging sein Aussehen nicht. Sein Gesicht sah um zehn Jahre älter aus. Auch konnte nicht unbemerkt bleiben, daß er den Dienst in der Zentrale nicht mehr versah. Die Phantasie begann zu arbeiten. Selbstverständlich jene Phantasie, die mit den dunkelsten Farben düstere Bilder des Verderbens malt. Die Besatzung gelangte zur Überzeugung, daß die Leitung der Expedition die Meldung von einem unkorrigierbaren Fehler in der Flugbahn des Konvois verheimlichte und daß Jenkins davon wisse und deshalb zusammengebrochen sei. In diesem fast unzurechnungsfähigen Zustand kamen Sheldon und Trott als eine von niemandem gewählte Delegation zum Kapitän und verlangten, die Wahrheit zu erfahren. Der Kapitän, dessen Nervenzustand auch schon angegriffen war, warf die beiden kurzerhand aus der Kabine hinaus. In der kurzen, im Drahtfunk folgenden Meldung wurde dann mitgeteilt, daß jeder, der Gerüchte von einem fehlerhaften Kurs verbreite, nach der Rückkehr der Expedition wegen ungewöhnlicher Gefährdung der Expedition zur Bestrafung vorgeschlagen werde. Ferner wurde mitgeteilt, daß der Kapitän zur Warnung den Radiotechniker Jenkins für eine solche Bestrafung bestimmt habe. Nun war ich völlig ratlos. Ich glaubte fest an Jenkins' Unschuld. Was nutzten alle meine mühsamen psychologischen Operationen, wenn der Kapitän sich entschlossen hatte, drastische Methoden anzuwenden? Vorauszusetzen, daß der Kapitän in dieser Situation irgendwelchen psychologischen Analysen zugänglich gewesen wäre, war undenkbar. Was sind die genialen Werke der Technik, wenn der Mensch in der grundlegenden Sache versagt - im Zusammenleben?
    Nachträglich wurde mir klar, daß ich in diesen Tagen nicht genügend objektiv war. Ich habe zum Beispiel O'Brien sehr verübelt, daß er mich im Falle Jenkins völlig im Stich ließ. Als ich, empört über die Entscheidung des Kapitäns, zu ihm kam, begann er wieder mit seiner komplizierten philosophischen Meditation, aus der ich zuletzt nur soviel begriff, daß er nicht die Absicht hatte, sich in die Befugnisse des Kapitäns einzumischen. Ich begann, O'Brien zu verdächtigen, daß er vielleicht doch wegen seiner untergeordneten Funktion beleidigt sei und daß er deshalb passiven Widerstand leistete. Oder daß er sich hinter der Welt seiner komplizierten Gedanken verschanzte. Wie wenig habe ich ihn in dieser Zeit gekannt! Wie schlecht habe ich all das beurteilt! In dieser allgemeinen Hysterie tat er das Vernünftigste, was er tun konnte: Er schützte das Olfaß vor dem Feuer. Er sagte zu mir: »Begreifen Sie doch, daß nicht die geringste Hoffnung besteht, wenn Sie von einem Versuchskarnickel erwarten, daß es fliegt. Es hat keine Flügel. Wir sind auch Versuchskaninchen. Nichts daran ist ungerecht. Es hat länger als zwei Milliarden Jahre gedauert, ehe wir aus dem Wasser aufs Land kriechen und Luft atmen konnten! Jetzt wollen Sie in wenigen Tagen die Naturgesetze ändern! Ich glaube, daß das Leben schon mit uns fertig wird. Glauben Sie, daß alles, was sich die Menschheit auf dem Gebiet der Moral als unveränderliche und große Wahrheit ausgedacht hat, wirklich so groß und unveränderlich ist?

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