Die Erde ist nah
Alles ist relativ. Oder glauben Sie vielleicht, daß die Natur, als sie sich abrackerte, um aus dem Kriechtier einen Menschen zu machen, Rücksicht auf irgendeine Gerechtigkeit mit großem >G< genommen hat?«
In diesen finsteren Tagen lud uns der Kapitän zu einer Beratung in den Klub ein, an der sich alle beteiligten, die gerade keinen Dienst hatten; die übrigen waren durch Drahtfunk verbunden. Der Kapitän eröffnete die Beratung mit der kurzen Bemerkung, daß sich die Expedition am Rande einer Katastrophe befinde, und zwar nicht wegen irgendeines Fehlers in der Berechnung der Flugbahn, sondern wegen der seelischen und körperlichen Verfassung der Besatzung. Gegenwärtig sei der Zustand so, daß er einerseits das anspruchsvolle Landungsmanöver gefährde und andererseits berechtigte Zweifel zulasse, daß es der Besatzung gelänge, in diesem Zustand das Hauptlager aufzubauen und vierhundertvierzig Tage auf dem Mars durchzuhalten. Den einzigen Ausweg aus dieser Situation drückte er mit einem Wort aus: Vertrauen! Alle schwiegen. Mir fiel ein, wie verzweifelt primitiv die Vorstellung des Kapitäns von der Möglichkeit der Besserung eines Zustandes war, an dem mehr als zweihundert Tage genagt hatten. Ich starrte vor mich hin ins Leere. Dann meldete sich O'Brien zu Wort. Ich riß mich einigermaßen zusammen und wartete, was er sagen würde. O'Brien sagte nur zwei Worte: »Jawohl, Vertrauen!« Erst hielt ich das für einen unangebrachten Scherz oder für den Anfang einer ironischen Bemerkung. Doch nichts dergleichen folgte. Niemand meldete sich zu Wort. Die Beratung war beendet. Ich hatte von meinen psychologischen Erfahrungen keine gerade geringe Meinung, und doch bewies mir die primitive Anschauung des Kapitäns, die O'Brien mit zwei Worten bestätigte, wie wenig erforscht die Gebiete der menschlichen Seele sind. Seit jener kuriosen Beratung, bei der nichts beraten wurde, begann sich die Atmosphäre zu reinigen. Begreiflicherweise war das nicht wie nach einer Prophezeiung oder Aufklärung. Es zerfloß wie Rauch über dem Kampffeld, über eingestürzten Balken; es roch nach Brandstätte, aber jeder von uns empfand es wie einen frischen Wind. Was war eigentlich geschehen? Was hatte sich verändert? Konnte denn ein einziges Wort wie eine Zauberformel wirken? Das Wort zwar nicht, aber der Gedanke. Es war wirklich eine große Erkenntnis zu wissen, daß uns nur noch das Vertrauen am Leben erhalten konnte.
Auch der Ablauf der Zeit beginnt sich zu beschleunigen. Der Mars leuchtet am Firmament wie ein großer rotflammender Stern. Noch vierzig Tage. Plötzlich überrascht uns diese niedrige Zahl. Wir erholen uns alle von der Depression wie aus einem schweren Traum. Wir beginnen zu glauben, daß dort unten - dieses Won hatte sich für die Landung auf dem Mars eingebürgert - alles wieder in Ordnung sein wird. Langsam festigt sich die Überzeugung, daß wir das Ärgste hinter uns haben.
Begreiflicherweise schwinden nicht alle Schwierigkeiten auf einmal. Einige der am meisten betroffenen Mitglieder der Expedition verfallen immer wieder und völlig grundlos in den Zustand dumpfer Gleichgültigkeit. Am schlimmsten ist Jenkins dran. Er leidet unter dem Gefühl eines ihm zugefügten schrecklichen Unrechts.
Ich nehme mir vor, diesen Fall mit dem Kapitän zu besprechen. Er hört kühl und aufmerksam zu. Dann erklärt er mir, daß er, obwohl er meine Ansicht als Arzt respektiere, keine Möglichkeit einer Lösung sehe. Offensichtlich, um überflüssige Illusionen zu zerstreuen, erklärt er, daß von einer Änderung seiner Entscheidung keine Rede sein könne. Er ist davon überzeugt, daß Jenkins an der schlechten Situation innerhalb der Expedition mitschuldig ist. Nach den Erfahrungen mit dem Kompromiß im Falle des Haupttechnikers ist seine Entscheidung unerschütterlich. Auf meine Einwände als Psychologe antwortet er: »Doktor Cosby, Ihnen ist doch klar, daß diese Expedition keine Exkursion von Zöglingen einer Wohltätigkeitsanstalt ist. Das ist eine Expedition ganzer Männer. Das war die Grundbedingung für das Gelingen gleich bei ihrer Planung. Im Grunde genommen ist das ein Stoßtrupp von Soldaten der Wissenschaft und des Fortschritts mit einer strengen - und schrecken Sie nicht vor dem Wort zurück - militärischen Disziplin. Keine positive Entwicklung ist bisher um diese Disziplin herumgekommen.« »Ich erkenne die Notwendigkeit von Ordnung und Disziplin an«, erwidere ich, »obwohl es mir persönlich zuwider ist, daß die
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