Die Erdfresserin
hungrig, plötzlich und überwältigend hungrig, dieser Hunger reißt mich von der Erde, aus dem Gras heraus, auf die Beine, mir ist übel vor Hunger, über mir die Sonne, die Wiese dreht sich, ein Kaleidoskop in Grün und Gelb, am Rand der Wiese eine Reihe Kastanienbäume dreht sich zügig mit.
*
Leos Wohnung hat zwei große Fenster, gegenüber die Wand des Hauses auf der anderen Seite der schmalen Gasse. Straßenbahnen halten direkt beim Eingang, ihr schrilles Bremsen reißt Leo jede Nacht aus seinem Schlaf, den er sucht und sucht und so selten findet, wenn er ihn braucht, in der Früh ist er benebelt von dem Schlaf, der ihn nun umso fester in seinem Griff hält, ihn verhöhnend, hatte er doch die halbe Nacht auf der Jagd nach ihm verbracht, und ist trotzdem nur Sammler geblieben, Minutenjäger, Stundenzähler, Erbsenklauber, Haarspalter.
»Mein Schlaf«, sagt er, als hätte er ihn geerbt, erworben, mit Vertrag gepachtet, und als würde er nun um ihn betrogen werden, täglich aufs Neue, was ihn zusehends empört, wie jeden anderen auch, der um sein Hab und Gut geprellt wird durch undurchsichtige Gaunereien. Er übt vor für seinen großen Schlaf, der vermutlich unmittelbar bevorsteht, und wie jeder, der seinem Hobby mit Hingabe frönt, möchte er dabei nicht gestört werden. Stundenlang liegt er am Rücken, die Hände mal andächtig, mal majestätisch über dem hoch aufragenden Hügel des Bauches auf die Brust gelegt, auf der sich graublonde Haare wie kleine, feuchte Schlangen einringeln. Mal sieht er stundenlang an die Decke, die Spinnweben in den Ecken habe ich entfernt, damit nicht alles, was er sieht, ihn an Verfall erinnern muss, geblieben sind die von der Sonne ausgeleuchteten Umrisse des Lusters, den seine Exfrau mitgenommen hat. Er betrachtet das abgenutzte Kabel, das sich aus einem falschen Stuckgeschwür aus der Decke windet, den leeren weißen Ring der Aufhängung, die kleinen Fetzen, die sich aus dem Kabelgeflecht lösen. Knipst die Tischlampe an, die ich ihm auf sein Nachtkästchen gestellt habe, eine weiße Kugel aus einem billigen Möbelgeschäft, einfach, aber sehr ruhig, wie ich finde, und dimmt das Licht mit dem Dimmer, den ich ihm dazu geschenkt habe, bis sein Schlafraum ein gemütliches Halbdunkel ist und ein gelber Mond dem gelben Mond seines Gesichts leuchtet. Dann fixiert er seine aufgedunsenen Füße, die unter der vom Bauch angehobenen Decke hervorschauen, die Zehen leicht abstehend. Breite gerillte Nägel. Leo verbringt viel Zeit liegend. Sein Leben verläuft in den kurzen Schüben meiner Besuche und den endlosen Zeitinseln dazwischen, manchmal dehnen sie sich aus, wenn ich viel zu tun habe oder wenn seine Bedürftigkeit mich zu sehr anekelt und ich diese Abneigung nicht überwinden kann oder möchte.
Seine Eltern rufen oft an und er legt auf, oder er hebt gar nicht erst ab. Sie möchten ihn abholen, sie möchten ihn ins Spital fahren, sie wollen seine Sparbücher in Sicherheit bringen, sie wollen mich erwischen, mich dabei erwischen, wie ich den letzten Rest aus ihrem Sohn sauge, aber ich bin vorsichtig wie jeder Vampir und Leo aggressiv ihnen gegenüber, und sie stehen oft vor verschlossenen Türen und läuten lange und vergeblich.
Wenn sie gegangen sind, hole ich den Korb, den sie auf der Schwelle zurücklassen, und nehme mir die Dinge, die nicht verderblich sind, nehme Vitaminpräparate, Dosen, Trockenfrüchte heraus und verpacke sie und bringe sie zur Post.
Die Fenster von Leos Wohnung gehen also nicht auf die Hauptstraße hinaus, sondern auf eine enge Gasse, die fast so dunkel und schmal ist wie die in Venedig. Die Fenster der gegenüberliegenden Wohnungen werden jedoch weder von dunklen Holzläden geschützt noch von den großzügigen Laken, die in Italien auf Leinen, zwischen den Häusern gespannt, in den warmen Wind gehängt werden, von Wäsche unterbrochen, Höschen unterschiedlichster Größen, Boxershorts, Kinderstrumpfhosen, eine eigenartige, aber sehr ausführliche Visitenkarte der Bewohner.
Manche der Fenster der gegenüberliegenden Fassade sind mit schweren Vorhängen vor Blicken der Nachbarn geschützt, andere mit der für Österreich typischen durchbrochenen Spitze, hinter der man undeutliche Schemen in Bewegung erkennen kann, die die Vorhänge ebenfalls in Bewegung bringen, zusammengefügte Schneeflockenstrukturen, vom Hauch der Bewohner in Schwung versetzt, kühl, kühl innen und noch abweisender außen. Die Pflanzen, die unmittelbar hinter dem Vorhang auf dem
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