Die Erdfresserin
Fensterbrett stehen, kann man meistens gut erkennen, ein roter Weihnachtsstern wie der in Nastjas Wohnung, im weißen Keramiktopf mit Goldrand.
Ich war einmal in Holland, längere Zeit, einen verregneten Sommer lang, und immer, wenn ich an die meditativ flache Landschaft denke, langgezogenes Braun-Grün von einer Seite des Horizonts bis zur anderen, mit einem tiefhängenden blaugrauen Himmel darüber, der viel näher an die mit weidenden Tieren übersäten Grasflächen gedrückt schien als hier, fallen mir die ebenso weiten und unbekümmert offenen Glasfronten ein, die die Holländer unbedeckt beließen. Als ich abends durch die Gassen feinerer und weniger feiner Bezirke ging, konnte ich die Einwohner beim Abendessen beobachten, beim Spielen, Fernsehen, beim Streiten.
Dieser unverhüllte Anblick fremder Intimitäten stimmte mich zuerst betroffen, dann neugierig, ich blieb vor einem großen ebenerdigen Fenster stehen und inspizierte die liebevoll, aber etwas geschmacklos eingerichtete Wohnung, die eine Heimeligkeit verströmte, wenn man über die Möbel hinwegsah, die eindeutig sehr neues Antik waren. Drinnen ein Ehepaar. Große Porzellanschalen, Kaffee oder Tee, ich konnte die Rauchfäden aus dem Aschenbecher aufsteigen sehen, der neben der Frau auf dem Tisch abgestellt war, sie trug viele Ringe an ihren dünnen Fingern, und zwischen ihnen die dünne Zigarette, und grüne Ohrringe. Ihr Haar, halblang und hinters Ohr gesteckt, gab einen schlaffen, hellen Hals frei. Sie sprach zwischen den kleinen Schlucken, ohne den Blick von ihrer Zeitschrift zu heben, ich sah sie ihre Worte genauso portionieren wie die vielen Löffelchen Zucker, die sie nebenbei in ihre Tasse rührte. Hinter ihr hing ein Ölbild mit einem über die Grachten segelnden Schwein, von einer Stoffstehlampe mit gebogenem Korpus beleuchtet. Die Glastür in den kleinen Garten war angelehnt.
Ihr Mann stand mit dem Rücken zu uns beiden am Herd und rührte ebenfalls, mit einem größeren Löffel als sie, und sprach vermutlich auch mit größeren Worten, die mehr Gewicht brauchten und weniger Geschwindigkeit, auch er sprach ohne sich umzudrehen, in seine Beschäftigung vertieft.
Ich sog die Luft ein, neugierig, was er wohl so konzentriert und bedächtig kochte, aber die Glasscheibe zwischen ihnen und mir machte das unmöglich. Ich roch den Asphalt, Abfälle im überfüllten Mistkübel, Abgase und mich und mein deutliches Parfüm und nichts anderes. Um den Inhalt seines Topfes zu erkennen, trat ich noch näher an das Fenster heran, und die Frau blickte plötzlich auf und verstummte, die blau gemusterte Porzellanschale auf halbem Weg zwischen Mund und Tischoberfläche, und ich schämte mich meines Eindringens und ging schnell weiter.
Umso mehr macht mich die aggressiv zur Schau gestellte, die künstliche Einsicht von angeblich Intimem wütend, wie Leos Nachbarn in der Wohnung schräg gegenüber es gerne machen. Aber ich und meine schlecht verständliche Wut sind völlig harmlos, sowohl für Leo als auch für jene, die hier geboren und aufgezogen wurden mit der warmen Milch der gesetzlichen Sicherheit, die sie in jene Langeweile stürzt, deren Folgen mich nun zur Raserei bringen. Dieses Sichzurschaustellen ist billig, denn es geschieht ohne Not und Grund, es ist so verwerflich, dass mir die Galle in meinen Hals hochsteigt und ihn satanspilzgelb verätzt. Ich könnte natürlich schnell am Fenster vorbeigehen, die Augen auf Leos Linoleum gesenkt, auf die alten verpissten Zeitungen, die seinem Kater gehört haben, und die er mir nicht erlaubt zu entsorgen. Von weitem erkenne ich bereits ihr Fenster, die zur Seite gezogenen grünen Stoffbahnen, ihre nackten Körper in Bewegung, und weiß, dass ich gleich töten könnte, morden, reißen wie eine mittelalterliche Bestie, faule Eier hinüberwerfen, Leos gebrauchte Klobürste wie einen Morgenstern hinterher.
Ich könnte wegsehen. Wegsehen ist Mutters Spezialität, nicht meine. Den unwillkommensten Besucher meines Körpers habe ich noch genau inspiziert, den Schorf am Kopf meines Sohnes, das Blut unter meinen Schuhsohlen, Leos beschämte Tränen in der Nacht. Inspiziert und genau bewertet und abgelegt zu meinem Theaterfundus. Was davon noch brauchbar ist, werde ich zu gegebener Zeit wieder hervorholen, beleuchten, inszenieren und den Vorhang raffen.
Ich bin knapp daran, einen Atomkrieg über die Gasse zu eröffnen. Die junge Frau wirft mir einen überlegenen Blick zu. Vermutlich hält sie mich für die Ehefrau eines
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