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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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könnten. Seine Hand duftet nach Kinderschweiß und Sommergras.
    »Schau«, sagt er und lächelt geheimnisvoll.
    »Was hast du da?«, frage ich ihn, um das Spiel nicht zum Stocken zu bringen.
    »Spatzen«, antwortet er mir, noch leiser als vorher, seinen Mund nahe an meinem Ohr, der Atem kitzelt mich ganz leicht hinter den Ohrläppchen, fast erotisch. Ich möchte, dass er weiterspricht, schließe die Augen.
    »Spatzen«, wiederhole ich. »Was machst du mit Spatzen?«
    Und er sagt: »Ich warte, bis große Tauben aus ihnen geworden sind.« Und ich sage: »Aus Spatzen werden nur Spatzen, Liebes, keine Tauben.«
    Und er lacht. Lacht sehr selbstsicher über die Torheiten einer groben Erwachsenen.
    »Aus meinen Spatzen werden Tauben. Um Mitternacht, wenn du schläfst.«
    »Gut«, sage ich und lehne mich näher hin zu seinem Kindermund, umarme ihn und lege meinen Kopf zu seinem. Es ist heiß, ich höre Hummeln brummen, kein Windhauch rührt den Kastanienbaum, in dessen Schatten wir sitzen.
    »Warum Tauben, was brauchst du denn Tauben, mein Täubchen.«
    »Tauben bringen die Briefe«, sagt er mit großer Selbstverständlichkeit.
    »Du kannst doch gar nicht lesen.«
    »Für Großmutter«, sagt er. »Wenn Großvater wieder da ist, geht sie mit mir Eis essen.« Dann macht er eine kleine Pause. »Sie schlägt mich, wenn du nicht da bist.«
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Wie lange waren Sie von zu Hause weg?«
»Üblicherweise immer ein, zwei Monate. Je nachdem.«
»Und wie lange waren Sie dann in der Heimat?«
»Maximal zwei Wochen.«
»Sind Sie lieber unterwegs gewesen?«
»Natürlich nicht. Ich habe einen Sohn.«
»Aber Sie gingen dennoch immer wieder fort.«
»Ich dachte, ich hätte das bereits erklärt.«
    11
    Wenn ich über das Wiener Pflaster gehe, denke ich oft an den Weg bis zum Haus meines Vaters. An die Wegstationen, an die Tankstellen, an die Bahnhöfe. An die Stadtzentren und leeren Felder.
    Ich gehe und denke, dass es hier kein Ghetto gibt, das Ghetto muss nicht eingezäunt und abgegrenzt werden hier, es ist allgegenwärtig, es durchdringt alle Schichten der Gesellschaft und lange, lange wartet man auf den Golem, der einen vor dieser Entzweiung bewahren soll.
    Das Wiener Pflaster ist anders als die silbern schimmernde Granitechsenhaut der Prager Innenstadt, anders als die riesigen Plätze um den Warschauer Bahnhof, dessen mächtige Betonsäulen durch Asphalt und Erdschichten dringen, um sich darunter fortzusetzen.
    Sollten einzelne der klobigen Wiener Pflastersteine sich lösen wie alte verfaulte Zähne, rücken hier unverzüglich die Straßenarbeiter aus, um alles wieder in Ordnung zu bringen, nicht wie bei uns, wo die Wege verschlungen und die Straßen baufällig und voller Löcher sind, voller Schlammseen, in denen schon einmal Autos stecken bleiben und Betrunkene ertrinken können.
    Ich erinnere mich, wie ungern ich mich in der Gegend um den Bahnhof herumtrieb, es gab dort viele, die dieselben Ziele hatten wie ich. Es gab auch viele, die nicht mehr wiederkamen. Unter der Erde hatten Kioskbesitzer ihre Buden in den verworrenen halbdunklen Gängen, eine neben die andere gereiht, verzerrte Musik, aus jedem Laden etwas anderes, deckte die Schritte mit Kakophonie zu, das Licht machte einen nicht unbedingt begehrenswerter. Es roch immer schlecht hier, nach Kunstleder und Fett und penetranten Süßigkeiten, man konnte in diesem eigenartigen unterirdischen Ameisenbau nicht lange stehen bleiben.
    Ganze Straßenzüge des Warschauer Ghettos wurden bei meinem vorletzten Besuch von reichen Immobilienhändlern aufgekauft, sie waren gerade dabei, die geschichtsträchtigen Fassaden zu behalten, auf denen riesige Planen mit Fotos der Vertriebenen und Ermordeten hingen, um das Innere der Häuser zu entkernen. Ich schätzte diese Baustellen, denn sie boten praktischen Unterschlupf, wenn es dunkel wurde und die Arbeiten bis zum Morgen ruhten. Man konnte den Himmel sehen, als ob man am Strand nächtigen würde, und man fühlte sich wild und frei.
    Wenn man einen wachsamen Schlaf hatte, wie ich, hörte man sich nähernde Schritte sehr gut in den leeren Räumen, die von den offenen Flächen ehemaliger Fenster durchbrochen wurden. Man konnte auf mannigfaltige Art und Weise fliehen oder aber, hinter den tragenden Wänden versteckt, auf eine gute Gelegenheit zur Attacke warten, ohne sich in die Gefahr des Entdecktwerdens zu begeben. Zu schade, dachte ich, zu schade, sie werden wohl bald

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