Die Erdfresserin
hinterrücks zu verschwinden, ich vor mir auf dem verschneiten Weg zum Bahnhof gehen sah, mir voraus, und sie lachten und wiesen mir den Weg vorbei an den Gleisen, die ich mit kurzem Zaudern passierte, ohne der Versuchung zu erliegen.
»Spiel mit mir, Leo«, fordere ich nochmals.
Leo lächelt unsicher, er kennt mich als Tobende und Versorgende, nicht aber als Verspielte, ich denke, dass ihn das einerseits freut, andererseits hat er in unseren einsamen Wochen Zeit genug gehabt, mich besser kennenzulernen, und er ist vielleicht ein spät berufener Esoteriker, aber noch nicht vollkommen verblödet.
»Ich weiß nicht«, murmelt er und wirft die Decke beiseite, um das Aufstehen zu proben. Unter der Decke kommt ein Schwall Wärme und Geruch hervor, aber ich empfinde diesen Geruch mittlerweile als vertraut und er stört mich nicht. Ich erwische mich dabei, dass dieser Geruch mir hilft, in langen rastlosen Nächten doch noch in den Schlaf zu fallen, steinschwer zu fallen, durch Leos Arm, den er um mich gelegt hat, durch die Polster und die Matratze mit der Gummiauflage, das Betoneisenskelett des Hauses und die asphaltierte Straße hindurch bis in tiefes, weiches Erdreich, das mich endlich auffängt, bevor mir mit der Fallgeschwindigkeit der Atem ausgeht.
»Sag mir, wo die Pfeile sind«, muntere ich ihn auf und streiche zart über seine Haut. »Ich hole sie und du kannst üben.«
Leo legt mir seinen Arm um die Schultern und hängt sich mit vollem Leogewicht an mein Rückgrat. Ich ziehe ihn unwillig weiter, bis er halb aus dem Bett heraushängt wie ein Darm aus einer offenen Wunde.
»Ich komme nicht bis ins Arbeitszimmer«, stößt er hervor. Er klingt, als ob er den Tränen nahe wäre, sie aber mit aller Kraft unterdrückt, vermutlich fehlt ihm genau diese für den Versuch aufzustehen. Ich bin gnadenlos, ich zerre weiter an ihm.
»Komm, Leo. Das geht.«
Ich will selbst nicht daran glauben, dass er einfach in diesem Bett mit mir bis ans Ende der Tage liegen wird, ich will nicht mit ihm gemeinsam unter seiner vertraut stinkenden Decke gefangen hier liegen, ohne eine Aussicht, dieses Zimmer je wieder zu verlassen, und die Feuchtigkeit um seine Augen tut mir weh. Ich kippe ihn mit Anstrengung zurück auf die Polster und gehe suchen.
»Im Arbeitszimmer, im kleinen Kasten, neben dem Schreibtisch. Im Federpennal«, weist mich Leo laut an, er klingt wie ein Chirurg, der seine Assistentin zu präzisem Arbeiten animieren möchte und die Worte besonders deutlich artikuliert.
Das Kästchen kann ich erst öffnen, nachdem ich ganze Stöße von Zeitungen und Arbeitsunterlagen beiseite geschoben habe, sie fächern sich vor mir auf wie Nastjas Tarotkarten, ich ziehe wahllos eine heraus, sie lautet: »Sehr geehrter Herr Brandstegl, wie bereits vorhin besprochen, geht die beanspruchte Dauer Ihres Urlaubs in Ordnung. Wir haben bereits für Ihre Vertretung gesorgt.«
Der Name ist unleserlich, Leo hat eine Kaffeetasse auf dem Brief abgestellt, viele Male, absichtlich, die braunen konzentrischen Kreise überlappen sich und verbinden längs gezogene Kaffeeflecken auf dem Papier zu abstrakter Malerei, aus der hie und da Buchstaben hervorscheinen und ein Stempel mit blauer Unterschrift.
Ich drehe das Blatt, die Unterschrift ist jetzt oben, Leos Name unten, kopfüber hängend. Leo ist der Gehängte, Brief ist Karte und alles ist anders.
»Hast du’s?«, schreit Leo aus Leibeskräften aus seinem Krankenzimmer heraus, und ich antworte nicht, ich lasse die Leotarotkarte auf den Haufen seiner restlichen Geschichte fallen und greife ins Kästchen und finde das Pennal. Er hat es bestimmt in einem Schulbedarf im Ausverkauf erworben, um zu sparen. Ein Skateboard ziert die Seite, die man beim Aufziehen des Reißverschlusses aufklappt. Ich nehme den Pfeil heraus, der abgegriffen, fast abgekaut darin liegt, und beeile mich, das Theater hat mich viel gekostet, viel Zeit und viel Aufwand, ich werfe das Pennal einfach auf den Boden zu den anderen Gegenständen, die Tür hinter mir zu und laufe ins Vorzimmer.
»Hast du’s?«, wiederholt Leo noch lauter, als ich an seiner Tür vorbeigehe, in den Flur, zum geöffneten Fenster, auf dem das junge Mädchen halbnackt hockt und sich in der warmen Herbstsonne provokativ räkelt. Ihr Haar kunstvoll im Gesicht. Als sie ihr grünes Auge faul in meine Richtung hinübergleiten lässt, ziele ich und werfe und verfehle es nur knapp. Sie schreit und greift nach ihrer Schulter, aus der Leos abgekauter Plastikgriff
Weitere Kostenlose Bücher